Der meisterlich inszenierte Rio-De-Janeiro-Favela Film „City of God“ (2002, Regie: Fernando Meirelles) erzählte dem westlichen Publikum die ergreifende Geschichte rund um Buscape, Bene und Locke. Es ging um Thematiken wie Drogen- und Bandenkriege, Freundschaft, Liebe und Familie in den sozialen Brennpunktvierteln Brasiliens…City of Men“ (2007, Regie: Paulo Morelli) knüpft nun indirekt, nicht bloß was die Ähnlichkeit des Titels betrifft, an die grandiose Sozial,- Milieu,- und Gesellschaftsstudie „City of God“ an und erzählt mit anderen Figuren eine fast ebenbürtig packende Story aus der gottlosesten Stadt Gottes, in deren Zentrum die beiden Jugendfreunde Acerola (Douglas Silva) und Laranjinha (Darlan Cunha) stehen.

Inhaltsangabe

Acerola und Laranjinha sind zwei rechtschaffende Freunde, die in dem Favela „Dona Marta“ in Rio De Janeiro ihr Dasein fristen. Beide versuchen sich aus den aufkeimenden Bandenkriegen raus zu halten und sind auf der Suche nach Halt, Orientierung, Liebe und Familie in ihrem Leben. Ihr gemeinsamer familiärer Hintergrund schweißt die beiden besonders zusammen: Beide haben sehr früh ihren Vater verloren bzw. wurden von ihm verlassen. Während Acerola sehr früh Vater geworden ist und sich versucht, im Rahmen seiner Möglichkeiten – angesichts seines jungen Alters, um seinen Sohn Clayton und seine Freundin Cris (Camila Monteiro) zu kümmern, begibt sich Laranjinha mit der Hilfe seines besten Freundes auf die problematische Suche nach seinem Vater. Als die beiden ihn gefunden haben, sich nebenbei auf der Straße ein brutaler Bandenkrieg um Territorien abspielt und Cris die Familie verlässt um in Sao Paulo einen gut bezahlten Job anzunehmen, offenbart sich jedoch im Zusammenhang mit Laranjinhas aufgefundenem Vater Heraldo (Rodrigo Dos Santos) ein dunkles Geheimnis, welches die starke „verbrüderte“ Freundschaftsdyade zwischen Acerola und Laranjinha droht auf die Probe zu stellen…

Kritik

„City of Men“ bietet vieles zugleich: Einerseits geht es um die Lebensgeschichten Acerolas und Laranjinha, welche beide Probleme am Backen haben. Während Acerola versucht Verantwortung für seinen Sohn zu übernehmen, aber oftmals an den ihm gestellten Aufgaben eines würdigen Vaters zu scheitern droht und bald durch den Weggang von seiner Freundin Cris auf sich alleine gestellt ist, sucht Laranjinha seinen verlorenen Vater und hat eine schwierige Liebschaft mit einem Mädel, das in der „feindlichen Gang“ ihren Platz und Sitz hat. Nebenher jobbt und arbeitet Acerola als Nachtwächter und füllt diesen eigentlich langweiligen Job durch eine Affäre mit einer älteren Dame mit vergnüglichem Sex.

Abgesehen davon und andererseits bekommt man als Zuschauer viele Einblicke in das soziale und gesellschaftliche Eigenleben der Favelas. Hier scheint jeder jeden zu kennen. Die Kids, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind mitunter bis an die Zähne bewaffnet und verteidigen ihr Territorium bis aufs Blut und Messer. Sie haben nicht viel: Keine oder wenig Bildung, kaum materielle Güter, Eigentum oder Besitz, oftmals keine Arbeit, vielleicht noch schlechte Gesundheit, miese Zukunftsaussichten oder gar keine Perspektiven, konfliktreiche Sozialbeziehungen (in denen es viel um Ehre, Lüge und Verrat geht), sparsame Anerkennung und minimale institutionelle Anbindung (d.h. das für die Institutionen wie die Polizei und die Post viele dieser Getto-Favelas so genannte „no-go-areas“ sind). Doch das was sie haben, ist ihr Viertel, ihr „street life“ und ihre soziale Zugehörigkeit zu einer kohärenten Gang. Das macht ihre problematische Identität aus, hinzu kommen Drogenhandel, Drogen- und Alkoholkonsum, frühe Elternschaften und keinerlei gesundheitliche oder soziale Absicherungen. Das Einzige, was ihnen halbwegs sicher sein kann sind die immer gleichen Leute die man kennt und ihr Territorium, was sie bereit sind mit Waffengewalt gegen Eindringlinge und andere Banden und Gangs zu verteidigen. Würde man ihnen ihre Stadt, ihre Gruppenzugehörigkeit und ihr Heim nehmen, dann hätten sie nichts mehr auf das sie bauen und setzen könnten…

Diese Identitätspsychologie der Einwohner von den Favelas Brasiliens wird auch in „City of Men“ passabel, glaubhaft und nachvollziehbar geschildert. Buscape war ein moralischer Charakter und ebenso sind es die beiden Hauptfiguren in „City of Men“. Eigentlich wollen sie nichts zu tun haben mit dem Bandengehabe in den Slums, doch als Acerola von Cris zurück und von seinem besten Freund im Stich gelassen wird, gerät er in den Strudel derjenigen Bande, die gerade den Krieg um den allseits beliebten und hart umkämpften „Hügel“ verloren hat. Hier gilt das gleiche Prinzip, wie in sektiererischen Glaubensgemeinschaften: Ein mit Problemen befrachteter junger Erwachsener fällt im Rahmen seiner Verzweiflung zufällig in die Hände einer Gang, die ihn freundlich aufnimmt, ernährt und ihm eine Schlafgelegenheit bietet, doch im Gegenzug muss Acerola sich mit der Bande solidarisieren und Seite an Seite mit den Mitgliedern erneut in den entbrennenden Kampf um das Territorium des Hügels begeben…

Der Einzige, der ihn zur Vernunft bringen könnte ist sein bester Freund, der sich aber in diesen Momenten auf die langsam anlaufende und immer mehr gelingende Beziehung zu seinem Vater konzentrierte. Der zunächst gefühlskühle und distanzierte Heraldo taut immer mehr auf und es ist eine Freude die beiden beim Fußballspiel oder beim Reden über Frauen beobachten zu können. Gerade als ihre Beziehung auf dem Höhepunkt angekommen ist, die beiden zusammen leben, sich umeinander kümmern und wie Vater und Sohn miteinander umgehen kommt es jedoch zu zweierlei: Zum einen wird ein für die beiden Freunde wichtiges und dunkles Geheimnis der kriminellen Vergangenheit von Heraldo gelüftet, zum anderen kann selbiger anscheinend nicht die Finger von kriminellen Machenschaften lassen, was folgenschwere Konsequenzen für ihn haben wird…

Hier zeigt sich, dass Resozialisierung empirisch in den meisten Fällen nicht klappt und sowieso nur in der Theorie zu funktionieren scheint. Die meisten straffällig gewordenen werden nach ihrer Knastentlassung wieder straffällig, da sie in ihr altes Milieu und in ihre alte Umgebung zurückkehren und innerhalb ihrer alten Sozialbeziehungen wieder irgendwelche krummen Dinger drehen. Obwohl Heraldo schon 15 Jahre für einen Mord abgesessen hat und in diesen 15 Jahren mehr als genug Zeit hatte sich gewissenhaft Gedanken über seine Tat zu machen, scheint er nichts draus gelernt zu haben. Er bereut zwar, aber diese Reue reicht nicht aus um ein besseres Leben zu beginnen, was er wahrscheinlich sowieso nicht könnte – da die Gesellschaft solchen gestrauchelten und gebrochenen Existenzen sowieso wenig bis gar keine Chancen erteilt sich zu bewähren, sich sozial zu integrieren und gesellschaftlich zu etablieren. Wer einmal im Knast war, hat ein Brandmal fürs Leben und das wird er auch nie wieder los (An dieser Stelle ein heißer Geheimtipp dazu: Ein anderes aktuelles und ausgezeichnetes Independent-Gefängnis-Drama zu verschiedentlichen Thematiken wie Reue, Insassensubkultur, Wärterschaft und Resozialisierungs-Theorie ist der Film „Felon“ mit Val Kilmer und Stephen Dorff). Doch darum geht es nicht vordergründig.

Viele der Schauspieler aus „City of Men“ waren schon in „City of God“ zu sehen, sind dementsprechend authentische Bürger Rio De Janeiros, haben keine Schauspielausbildung genossen und sind quasi direkt von der Straße gecastet worden. Diese Tatsache kommt dem Film ebenso zu Gute, wie das schon in „City of God“ der Fall war und an den schauspielerischen Leistungen – die von hohem Authentizitätsgrad geprägt sind – ist nicht im Geringsten irgendetwas zu bemängeln. Das einzige Manko könnte es sein, das Douglas Silva für die Rolle des Acerola schon etwas zu alt wirkt, was dem Film aber im Endeffekt und im Gesamtbild keinen Abbruch tut. Zum Glück haben die Produzenten und Filmemacher nicht den Fehler begangen ein billiges Sequel abzudrehen um des schnöden Mammons Hunger zu stillen. Was man hier geboten bekommt, ist ein anderer Plot als der von „Cidade de Deus“, wobei selbstverständlicherweise Parallelen erkennbar sind. Trotzdem ist die Charakterzeichnung eine eigene und außerdem stehen die Quasi-Bösewichte des Films hier nicht so im Vordergrund, wie das in „City of God“ mit der Figur „Locke“ der Fall gewesen ist. Um was es hier geht ist eher parallel vergleichbar mit der Geschichte Buscapes: Unterschwellig suchen die beiden Freunde nach einem Ausweg aus den ganzen Miseren in den Favelas, auch wenn sie nach dem Banden- und Territorienkrieg mehr denn je danach suchen als sie es vorher getan haben. Schließlich geht es um den Schutz ihres Lebens und das ihrer Kinder, denn beide wollen nicht, dass ihre Söhne auch vaterlos aufwachsen und niemanden haben, der „ihnen etwas zeigt“ und für sie da ist. In ihren Lebenseinstellungen sind die beiden Jungs für ihr Alter und im Vergleich mit den Gleichaltrigen ihrer Peer-Group schon sehr reif und erwachsen, was von überdurchschnittlicher Intelligenz zeugt und auch für den Zuschauer eine Angriffsfläche zur Identifizierung mit diesen sympathischen Hauptfiguren bietet.

Der Plot ist nur bedingt vorhersehbar, letztlich ahnt man nicht wirklich was sich am Ende ereignen wird. Der Gedankengang diesbezüglich ist eher, das der Film möglicherweise mit Happy-End enden oder aber auch ein böses Ende nehmen könnte. Neben der geschickten Konstruierung des Plots mit Twists und einer angemessenen (und nicht übertrieben starken oder schwachen) Dramaturgie, dem obendrein in diesem Kontext positiv anzumerkendem Faktum, das beinahe gänzlich auf überdramatische und kitschige Liebesgeschichten verzichtet wurde (und auch die Sexszenen sind „quasi-verschlüsselt“ – in dem man fast nur unscharfe Bilder des Koitus präsentiert bekommt), kann man sich wunderschöne, ästhetische und sozusagen „armutsromantische“ Bilder des Gettos visuell einverleiben. Die Kamera bleibt immer nah an den Gesichtern, Mimiken und Gestiken der Schauspieler, wackelt nicht sehr und sowieso sind einige Kamerastellungen außerordentlich gut – ähnlich wie bei „City of God“ – aber nicht in so vollendeter Perfektion – gelungen. Das labyrinthhafte und verschachtelte Straßensystem auf den Hügeln Rios wurde bestimmt noch in keinem anderen Film so meisterlich visuell eingefangen und porträtiert. Die zahlreichen Dialoge sind für die jeweiligen Situationen und Konflikte adäquat und unterhaltsam, die Charaktere interessant und spannend genug gezeichnet und die originale und originelle brasilianisch-musikalische Untermalung (die natürlich auch Parallelen zu „City of God“ aufweist) trägt ihr Übriges zum Filmvergnügen bei. Aktuell und passend ist auch, das das gerade auch in westlichen wissenschaftlichen Gefilden wieder neu aufkommende, gesellschaftstheoretische Thema der (immer wichtiger werdenden) Integrität, Bedeutsamkeit und Wichtigkeit von Freundschaften (anstelle von familiären Beziehungen) abgehandelt und akzentuiert wird…

Fazit

„City of Men“ reicht nicht ganz an die große Nummer „City of God“ heran, dennoch kann sich der Film sehen lassen und braucht sich nicht kleinduckmäuserisch hinter seinem großen Vorfolger zu verstecken, sondern ist ein würdiger Nachfolger mit ganz eigenen Kreationen, die uns weitere soziale, milieutheoretische und gesellschaftliche Einblicke in diesen Mikro-Makrokosmos der Favelas gewährt und obendrein noch bestens und ohne sozialkritischen, sozialkitschigen oder moralisierenden Zeigefinger mit sympathischen und glaubwürdigen Charakteren fesselnd und spannend zu unterhalten weiß!

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