Marius (Jan Henrik Stahlberg) ist von Beruf Motivationsmanager. Sein Leben besteht darin, unschuldigen Menschen Schwachsinn ins Gesicht zu brüllen. Eines Tages schließt er die Seminartür hinter sich und als er sie wieder öffnet, hat sich sein Leben verändert: Er ist in einem Raum-Zeit-Kontinuum gefangen. Sobald er jetzt eine Tür hinter sich zumacht, haben seine Mitmenschen ihn vergessen. Das hat seine Vorteile: Man kann im Restaurant für lau essen, beim Gebrauchtwagenhändler Autos abzocken und in Hotels umsonst übernachten. Probleme gibt es nur, wenn man ein Mädchen kennen lernen möchte. Zu allem Überfluss hat Marius aber auch noch den ungelenken Seminarteilnehmer Jörg (Arved Birnbaum) am Hals… (Verleihinfo)

Filminfos

O-Titel: Kein Science Fiction (Deutschland 2003)
Vertrieb: Eurovideo
EAN-Nummer: 4009750222492
Veröffentlichung: 19.06.2008 [Kauf-DVD]
FSK: ab 12
Länge: ca. 106 Min.
Prod./Regisseur: Franz Müller
Drehbuch: Franz Müller
Musik: Tobias Ellenberg
Darsteller: Arved Birnbaum (Jörg), Jan Henrik Stahlberg (Marius), Nicole Marischka (Anja) u.a.

Handlung

Der behäbige Ossi Jörg Kasuhnke nimmt an einem Seminar teil, das der smarte Wessi Marius zwecks Motivationstraining abhält. Durch seine ungelenke, unüberlegte Art treibt Jörg den Trainer zur Weißglut, so dass beide hinaus vor die Tür gehen, diese schließen und Marius diesem Rindvieh Jörg mal die Meinung geigt. Beide schließen dabei die Augen. Als sie Tür wieder öffnen, zeigt sich dahinter jedoch ein ganz anderes Seminar: Aktzeichnen. Nach mehrmaligem Testen merken beide, dass sie in einer etwas veränderten Welt gestrandet sind. Bei Jörg dauert es natürlich ein wenig länger. Schließlich hat er seine ganze Familie verloren, wohingegen Marius frank und frei durchs Leben geht.

Marius merkt denn auch als erster, dass dieses Paralleluniversum einen entscheidenden Unterschied zu ihrer früheren Welt aufweist: Schließt hinter einem von ihnen die Tür, haben die Menschen ihn vergessen. Auf diese Weise wird jede Tat folgenlos, und das weiß Marius gnadenlos auszunutzen, schließlich er ja der große Manipulator. Er beweist dem scheinbar tumben Jörg, was er drauf hat und was möglich ist. Erst besorgt er eine anständige Hotelsuite, dann ein geiles Auto, ebensolches Outfit für die beiden Herren.

Auch an seiner menschlichen Interaktion soll Jörg noch etwas feilen, so etwa beim Erfolg im Anbaggern von Frauen. Jörg ist zunehmend befremdet von der frauenverachtenden Art, die Marius dabei an den Tag legt. Er selbst versucht auf seine ungelenke Art und Weise, mit der singenden Rezeptionistin Anja anzubandeln. Doch die Sache mit den Türen macht ihm jedesmal einen Strich durch die Rechnung: Sie hat ihn sofort wieder vergessen. Es kann nicht ausbleiben, dass auch Marius die süße Anja entdeckt und sofort abschleppt. Sie wirft ihn jedoch raus. Was für ein Rückschlag für den Supermann. Weitere Baggerversuche werden wegen Vergessens abgeschmettert.

Deshalb ist Marius zunehmend auf den einzigen Menschen angewiesen, der ihn eben nicht zu vergessen vermag, und das ist dieser grobe Klotz namens Jörg. Dieser legt immer mehr Anzeichen von Intelligenz an den Tag: Er sägt Türschlösser weg und blockiert Türen, wenn er sich auf ein Rendezvous mit Anja freut. Unterdessen fühlt sich Anja ebenfalls immer öfter aus unerklärlichen Gründen plötzlich einsam – kein Wunder, wenn wieder mal eine Tür hinter ihr zugefallen ist. Sie weint sich bei ihrer Schwester aus. Auch Marius fühlt sich zunehmend einsam und wird apathisch.

Kurz darauf kommt Jörg auf den genialen Trichter, dass er und Marius ja in Anjas Schwester einen idealen Zeugen hätten, um ihre Existenz gegenüber Anja zu bezeugen. Als ob Marius nicht schon längst darauf gekommen wäre! Aber man muss es ausprobiert haben, deshalb lässt sich Marius auf einen Test ein. Es wird ein sehr lustiger Abend. Jedenfalls so lange, bis Jörg mit Anja vor die Tür geht, diese schließt und wieder zurückkehrt – wer ist der Fremde an ihrer Seite? Als Anja deliriert, dass sie sich nach dem Meer sehnt, fällt bei unseren beiden Superhelden der Groschen: Das Meer hat bekanntlich keine Türen!

Aber kann dies wirklich die Lösung ihres Problems bringen?

Mein Eindruck

Dass Anja den Roman „Zeitbeben“ von Kurt Vonnegut liest, ist ein deutlicher Hinweis an den kundigen Zuschauer. Bekanntlich beginnt in diesem Roman die Geschichte, die der Protagonist kennt, an einem bestimmten Punkt von neuem, sozusagen als kosmischer Schluckauf. Aber ist er wirklich verdammt, alles bis zum bitteren Ende dieser zehnjährigen Wiederholungsschleife zu durchleben, ohne jede Änderung? Wohlgemerkt: Dies ist kein beliebig oft wiederholtes Replay, sondern nur ein einziges. Der Held erlebt das Ende als seine große Chance.

Auch Marius und Jörg versuchen das Beste aus einer schlechten Situation herauszuschlagen. Die Liste der Annehmlichkeiten ist lang, wenn man quasi unsichtbar ist. Und wie bei dem entsprechenden Roman von H.G. Wells – schon wieder Science Fiction – schlägt Marius’ Handeln rasch in Anarchie und Pöbelei um, jedenfalls bis er eins auf die Nase verpasst bekommt. So ganz „invisible man“ ist er dann doch nicht.

Doch Jörg ist ein emotionaler Familienmensch. Ihm setzt das ständige Vergessenwerden heftig zu, weil ihm die Wärme und die Bindung zu anderen Menschen abgehen. Deshalb versucht er hartnäckig sein Glück mit der süßen Anja, die so gut singen kann. Was ihm an ihr besonders gefällt: Sie will alles, bloß kein Reihenhausidyll mit Mann und Kind, in dem sie versauern müsste. Jörg ahnt, dass er mit ihr etwas erleben könnte. Er träumt von einer Reise nach Japan und übt schon mal Origami und Gitarrespielen – denn das kann sie ja auch.

Die Parallelwelt ist natürlich unsere eigene, nur eben mit Mitteln des phantastischen Romans überspitzt. Dabei reicht schon ein einziger geänderter Faktor aus, um die seltsamsten Dinge auszulösen. Allerdings würde sich ein guter SF-Autor, wie etwa Stanislaw Lem oder Ursula Le Guin, noch viel ausgefalleneres Zeug einfallen lassen, als Franz Müller dies tat. Müller will nur wenige Aussagen treffen, doch diese auf eindrückliche Weise.

Zum einen führt er die moderne Spezies der Macher und Manipulatoren vor. Nur weil sie glauben, sofort wieder vergessen zu werden, also anonym zu sein, konsumieren sie andere Menschen bzw. deren Dienste, beispielsweise One Night Sex. Die Gefühle anderer setzen sie dann gegen diese Opfer ein, bis sie einen weiteren Sieg errungen zu haben meinen. Dabei übersehen das wesentliche Merkmal ihrer Existenz: Obwohl sie glauben, sie seien frei, sind sie einsam. Ihr Freiheitsbegriff lautet: Ich bin frei von Zwängen, also kann ich alles. Sie verwechseln Freiheit mit Macht. Und deshalb ist ihre bzw. unsere Welt auf unheimliche Weise kalt.

Das tut Jörg nicht. Seine Freiheit besteht in der Erlaubnis, etwas zu tun und Dinge geschenkt zu bekommen, weil andere ihn lieben. So erzählt er beglückt von seiner Tochter Vanessa, die ihm eines Morgens Frühstück ans Bett gebracht habe. Seine Freiheit verwirklicht sich in der Liebe, und seine Welt ist voll Wärme. Deshalb versucht er, zu Anja eine Beziehung aufzubauen, in der beide emotional zufrieden sind. Wie soll dies aber in einer Welt des Vergessenwerdens gelingen? Er befindet sich quasi in einer Hölle, die aus Türen gemacht ist. Für Marius sind Türen Manipulationswerkzeuge, für Jörg sind es Fallen.

Beide Männer verändern sich zu ihrem Vorteil. Marius wird nachdenklich und empfänglich für Gefühle, Jörg wird einfallsreicher und entwickelt beachtliche Initiative, ohne jedoch manipulativ zu werden. Beide entwickeln zusammen mit Anja eine Dreiecksbeziehung, ohne Besitzansprüche anzumelden. Sie wissen, dass sie sie allzu leicht wieder verlieren können. Der Abend am Meer, das hier Freiheit vom Türenterror bedeutet, ist der schönste Moment des Films. Witziger ist lediglich der Schluss. Launisch wie das Einsetzen des EFFEKTS ist auch dessen Verschwinden, genau wie bei Vonnegut. Und da kommt Jörg ein genialer Einfall…

Die DVD

Technische Infos

Bildformate: Widescreen 1,85:1 (anamorph)
Tonformate: Dolby Digital 2.0 (Stereo) in Deutsch
Sprachen: D
Untertitel: D, Englisch
Extras:

  1. Trailer
  2. Audiokommentar mit Regisseur Franz Müller
  3. Entfallene Szenen
  4. Ein erster Test: Probeszene
  5. Biografien
  6. Bildergalerie
  7. li>Song „Parallel Universum Remix“

  8. Trailershow

Mein Eindruck: die DVD

Das Bild ist zwar ansehbar, aber nicht gerade Kinoqualität: Wie der Regisseur im Kommentar berichtet, nahm er die Szenen auf Mini-DV (Sony) auf, also auf digitalem Video. Die Originalszenen, die man unter den Entfallenen Szenen findet, sehen höchst suboptimal aus, doch durch die Bearbeitung im Computer (oder mit einer AVID-Maschine) kommt am Schluss ein gutes Digitalvideo-Bild heraus, das scharf und gut ausgeleuchtet ist. Die Dialoge wurden wahrscheinlich ebenfalls entsprechend nachbearbeitet. Durch das Wegfallen der Umgebungsgeräusche klingen alle Dialoge deutlich und verständlich. Untertitel liegen auf Deutsch und Englisch vor.

Die EXTRAS:

  1. Trailer: Der Trailer fungiert natürlich als Appetizer und versucht, die Story zu erklären
  2. Audiokommentar mit Franz Müller: Der Regisseur erklärt seine improvisierende Arbeitsmethode, bei der er kein Dialogbuch einsetzte, sondern alle Szenen von den Schauspielern entwickeln ließ. Das Ergebnis ist zwar gewöhnungsbedürftig, hat aber den Charme des Unverfälschten, des Authentischen. Nur Stahlberg fällt durch seine ständigen Vorträge etwas aus diesem Rahmen.

    Wie minimal diese Produktion ausgestattet, verrät Müller ebenfalls: Budget waren 20.000 D-Mark (das war also vor der Euro-Einführung) für 22 Drehtage. Das Ergebnis waren vier Stunden Film, die entsprechend gekürzt werden mussten – daher die vielen Entfallenen Szenen.

    Die Idee zum Film kam wohl zum Teil durch das Buch „Zeitbeben“ von Kurt Vonnegut, das ich oben erwähnt habe. Für Müller steht Vonnegut für Moral und Witz, was ihm gut passte, denn er wollte eine Komödie drehen. Die Vonnegut’sche Absurdität passt gut hinein.

  3. Entfallene Szenen (ca. 10 min): Die 7 Szenen machen exakt 577 Sekunden aus, also 9,6 Minuten. Die meisten davon sind weniger als 2 Minuten lang und wirklich vernachlässigbar. Man hat nichts verpasst.
  4. Ein erster Test (ca. 4 min): Vor der externen Toilettentür des Mercedes-Hauptquartiers zu Berlin proben Stahlberg und Birnbaum die entscheidende Szene, in der die Zeitverschiebung stattfindet. Die meiste Zeit redet natürlich Stahlberg als Marius, sehr intensiv, und Birnbaum als Jörg macht alles falsch.
  5. Biografien: Texttafel-Biografien von Franz Müller, Nicole Marischka, Arved Birnbaum (Jörg), Jan Henrik Stahlberg (Marius) inklusive Filmografie bis zum Jahr 2008.
  6. Bildergalerie: Neben Nahauufnahmen der drei Hauptdarsteller sehen wir auch Aufnahmen von den Dreharbeiten und der gesamten Crew.
  7. Song „Parallel Universum Remix“: Der Song von Tobias Ellenberg wird im Film vermutlich von Nicole Marischka zum Abspann gesungen, jedenfalls passt ihre Stimme dazu. Hier liegt nun der Remix vor, der im Hintergrund wesentlich besser klingt, weil der Bass fetter ist und ein paar Effekte eingefügt wurden. Eignet sich gut zum Relaxen.
  8. Trailershow:

Unterm Strich

Die ungewöhnliche Geschichte ist eine überspitzt formulierte Parabel über Manipulation, Freiheit und Liebe. Dabei spielt das zentrale Gegensatzpaar natürlich eine Hauptrolle, die auch das Verhältnis zwischen Ost und West wiederspiegelt. Wie muss es wohl für die Bürger der ehemaligen DDR gewesen sein, als plötzlich ihr Land weg war? Sie fanden sich urplötzlich in einem Parraleluniversum wieder. Nicht notwendigerweise in dem hier geschilderten, aber die Nestwärme ihres kleinen Staates fanden sie im modernen, durchtechnisierten Westen vermutlich nicht.

In der Beziehung zu Anja verwirklichen Marius und Jörg ihre gegensätzlichen Vorstellungen von Liebe, doch durch die Rückschläge aufgrund des EFFEKTS, dass jede geschlossene Tür ihre Mitmenschen sie vergessen lässt, müssen sie sich ändern. Dies geschieht auf eine Weise, die sich schließlich als positiv und konstruktiv erweist. Als beide in die alte Welt zurückkehren, können sie die hart erlernten Lektionen umsetzen. So erweist sich der Film letzten Endes als eine Aussagen über zwei Systeme, zwei Weltanschauungen und zeigt eine Möglichkeit auf, sie zu vereinen. Ob diese Aussage utopisch ist, muss jeder für sich entscheiden.

Alles in allem ein Film für Freunde des unabhängigen Filmemacher-Kinos, die offen für ungewöhnlich umgesetzte Ideen sind und durchaus etwas mit dem Humor und der Moral eines Kurt Vonnegut anfangen können.

Die DVD

Die Silberscheibe wartet mit guter technischer Qualität und zahlreichen Extras auf, so dass man das Bonusmaterial durchaus als umfangreich bezeichnen kann. Ich bezweifle jedoch, dass sich der Zuschauer den kompletten Regiekommentar antun will. Allerdings fand ich den Bonus-Song recht charmant.

[Wertung]

Mima2016: 4 out of 5 stars (4 / 5)

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