John Ferguson (Oscar®-Gewinner James Stewart) muss wegen seiner extremen Höhenangst den Polizeidienst in San Francisco quittieren. Für einen alten Freund wird er aber noch einmal aktiv und beschattet die mysteriöse Madeleine (Kim Novak), in die er sich nach und nach verliebt. Als sie sich aber vor seinen Augen in den Tod stürzt, bricht für John eine Welt zusammen – bis er Jahre später Judy Barton kennenlernt, die der toten Madeleine zum Verwechseln ähnelt. Besessen vom Wunsch, die Tote wieder zum Leben zu erwecken, gestaltet John die ahnungslose Judy zu Madeleines Ebenbild um, womit er eine schreckliche Katastrophe auslöst… (Verleihinfo)

Filminfos

  • O-Titel: Vertigo (USA 1958)
  • Dt. Vertrieb: Universal (2003)
  • VÖ: 05.09.2013
  • EAN: 5050582941289
  • FSK: ab 12
  • Länge: ca. 128 Min.
  • Regisseur: Alfred Hitchcock
  • Drehbuch: Alec Coppel & Samuel Taylor, basierend auf dem Roman „D’entre les morts“ von Boileau/Narcejac
  • Musik: Bernard Hermann
  • Darsteller: James Stewart, Kim Novak, Barbara Bel Geddes, Tom Helmore, Henry Jones u.a.
  • Restauriert von: Robert A. Harris & James C. Katz

Handlung

Wenn es diesen Zeitungsartikel nicht gegeben und der Polizist nicht in der Vergangenheit gelebt hätte, dann wäre all dies wohl nicht passiert. Aber so wird es drei Stürze, zwei Unglücke und einen Mord geben…

John „Scottie“ Ferguson (Stewart) befindet sich auf Verbrecherhatz über den Dächern von San Francisco, als er ausrutscht und an einer Dachrinne gerade noch Halt findet. Ein Blick hinunter auf die Straße lässt seine latente Höhenangst (Akrophobie) akut ausbrechen. Er hat Schwindelgefühle und glaubt, in einer Spirale zu stürzen. Deshalb kann er auch dem Cop, der ihm eine hilfreiche Hand reichen will, nicht helfen. Der Polizist verliert den halt und stürzt an Scottie vorbei in die Tiefe. Am nächsten Tag steht der Vorfall in der Zeitung und Scotties Akrophobie wird bekannt. Jemand beschließt, sich dies zunutze zu machen. (Wie Scottie je von diesem Dach runterkam, erfahren wir nicht.)

Scottie hat keine Geldsorgen und ist auch privat ungebunden, denn seine Verlobung mit der Werbegrafikerin Midge (Barbara Bel Gedge) ist schon lange wieder aufgelöst, nach nur drei Wochen. Angeblich war sie dran schuld. Doch sie liebt ihn immer noch, denn offensichtlich lebt Scottie nicht so ganz im Hier und Jetzt: In jedem zweiten Satz benutzt er das Wörtchen “remember“. In einem kleinen Experiment muss Scottie feststellen, dass er immer noch Höhenangst hat und keinen Dienst leisten kann. 

Sein alter Schulfreund Gavin Elster (Tom Helmore) lädt ihn ein und bittet ihn, seiner Frau Madeleine (Kim Novak) zu folgen, die, wie Elster sagt, glaubt, vom Geist einer lange verstorbenen Vorfahrin (ihrer Urgroßmutter Carlotta Caldes, 1831-1857) besessen zu sein. Dieser Geist treibe sie dazu, ebenso wie Carlotta Selbstmord zu begehen. Ebenso wie Carlotta sei auch Madeleine 26 Jahre alt. Elster hält Madeleine eindeutig für selbstmordgefährdet.

Der Auftrag

Zunächst widerwillig, dann wegen der Schönheit der Lady zunehmend bereitwillig übernimmt Scottie den Auftrag und folgt Madeleine auf Friedhöfe und in Galerien, wo Spuren von Carlotta zu sehen sind: Ihr Grab, ihr Porträt, ihr Blumenstrauß und ihre Frisur gehören alle zu Carlotta. (Scottie und Midge erfahren vom Buchhändler Pop Leibel aus dem „Argosy Bookshop“, dass Carlotta Valdes eine junge Frau war, die sich von einem mächtigen Mann aushalten ließ, doch nachdem er ihr ihr Kind weggenommen hatte, wurde sie melancholisch und wahnsinnig. Er baute für sie ein großes Haus, das nun als McKittrick Hotel eines der Besuchsziele Madeleines ist. Hier findet eine der seltsamsten Episoden in einem an Rätseln reichen Film statt: Madeleine verschwindet hier unbemerkt.)

Als er sie aus der Bucht von San Francisco rettet, wird klar, dass er sich in sie verliebt. Er bringt sie zu sich nach Hause, wo sie entdeckt, dass er sie ausgezogen und ins Bett gesteckt hat. Als er für einen Moment abgelenkt ist, verschwindet sie sofort, doch nur um sich am nächsten Tag bei ihm zu bedanken. 

Sie beschwert sich nicht, dass er sie verfolgt. Vielmehr gesteht sie ein, dass sie gerne mit ihrem Auto „wandert“ und er schlägt vor, gemeinsam zu „wandern“. Offenbar ist auch er wurzellos. Sie besuchen einen Urwald mit uralten Sequoia-Bäumen, und hier merkt er, dass er sie bereits vermisst, wenn sie mal kurz hinter einem Baum verschwindet. Als sie droht, in die nahe Meeresbucht zu springen, eilt er sofort hinterher, um sie einzufangen. Etwas scheint sie wirklich in den Selbstmord zu treiben, und deshalb fleht sie ihn an, sie festzuhalten. Scottie ist verloren: Er verspricht ihr, auf sie aufzupassen, und ein leidenschaftlicher Kuss folgt. 

Dieser Kuss wird bei einem weiteren Ausflug wiederholt, der das Paar abermals in die Vergangenheit führt. Die Mission San Juan Bautista ist der Ort, wo Carlotta Valdes von Nonnen erzogen wurde, und Madeleine scheint sich genau daran zu erinnern. Doch bevor er es verhindern kann, eilt sie die Treppe des 70 Fuß hohen Glockenturms hinauf. Wegen seiner Höhenangst gelingt es Scottie nicht, Madeleine einzuholen, bevor sie sich in die Tiefe stürzt. Scottie ist tief erschüttert, seine wahre Liebe verloren zu haben. Heimlich verlässt er den Turm durch einen Seitenausgang, während die Nonnen, die hier immer noch leben, die Leiche vom Dach ihrer Kirche holen.

Intermezzo des Wahnsinns

Bei der folgenden informellen Gerichtsanhörung sprechen die Geschworenen den Angeklagten Ferguson von jeder Schuld frei, denn die Tote Madeleine Elster sei nicht von zerrüttetem Geisteszustand gewesen, und man könne ihn nicht für ihren Selbstmord verantwortlich machen. Gavin Elster teilt Scottie mit, dass er in den Osten ziehen werde, denn er halte es nicht aus, ständig an die tote Madeleine erinnert zu werden. Das vertieft Scotties Schuldgefühl nur noch, statt ihn von der Leine zu lassen. Der brave Mann erledeidet in einem visuell und akustisch furios inszenierten Albtraum einen Nervenzusammenbruch. Midge, die sich wie eine Mutter rührend um „Johnnie-o“ kümmert, liefert ihn in eine Nervenheilanstalt ein.

Rückkehr von den Toten

Nach einiger Zeit zeigt sich Scottie wieder in den Straßen von San Francisco, doch uns wird schnell klar, dass der Mann ein Besessener ist, der der furchtbaren Vergangenheit nachhängt. Er besucht das Grab Madeleine Elsters und die Porträtgalerie im Palast der Ehrenlegion, wohin Madeleine immer vor Carlottas Porträt saß. Den kleinen Blumenstrauß findet er im bekannten Blumenladen in der Post Street. Hier fällt ihm eine junge Frau auf, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der betrauerten Toten hat, wenn sie auch rothaarig statt blond ist und mit einem amerikanischen Arbeiterklassenakzent spricht. Er folgt ihr kurzentschlossen in ihr Hotel und fragt sie, ob sie mit ihm dinieren möchte. Judy Barton, eine einfache Verkäuferin, die aus Salina, Kansas, stammt, sagt nach etwas Überredung zu.

Kaum ist Scottie zur Tür hinaus, erinnert sich Judy an das, was sie mit Scottie erlebt hat. Denn sie selbst war es, die Gavin Elsters Frau Madeleine gespielt hat, damit Elster ungestraft seine echte Frau umbringen konnte. Er hat Judy sitzenlassen und sich an die Ostküste abgesetzt. Doch Judy hat ein Problem: Sie hatte sich damals in Scottie wirklich verliebt. Und sie hofft, dass sie diese Liebe wieder für sich erlangen kann. 

Doch Judy lässt sich auf ein Vertigo-Spiel ein, das sie in einer Spirale der Obsession nur an einen Punkt führen kann. Und als sie sich gewiss ist, Scotties Liebe errungen zu haben, begeht sie einen verhängnisvollen Fehler…

Mein Eindruck

Die erste Ebene 

.. besteht in einem „murder mystery“, wie es Hitch von Anfang an drehen wollte. Und das ist auch der Kern, den die literarische Vorlage des französischen Autorengespanns Boileau/Narcejac („Die Diabolischen“) 1954 mit dem Krimi „D’entre les morts“ (Unter den Toten) lieferte. So hieß auch der Arbeitstitel: „From Among the Dead“. Hitch schlug den Titel „Vertigo“ erst auf Anraten des Drehbuchautors Samuel Taylor vor – und drückte ihn gegen den Widerstand der Paramount-Chefs durch.

VORSICHT SPOILER (bitte nur lesen, wenn der Filmschluss nicht bekannt ist!)

Folgendes passiert: Scotties Schulfreund Gavin Elster fasst einen raffinierten Mordplan, in dem er Scottie die Rolle des unschuldigen Zeugen zuweist, der beweist, dass Elster seine Frau, die ECHTE Madeleine, nicht getötet hat. Dazu muss er aus Judy Barton eine FALSCHE Madeleine kreieren. Sie führt Scottie mit Elsters hanebüchener Geisterstory hinters Licht und verführt ihn, während er glaubt, es sei genau andersherum. Da Elster korrekt kalkuliert, dass Scottie es wegen seiner Höhenangst niemals bis zur Turmspitze schafft, wenn er Judy verfolgt, kann Elster dort seelenruhig Judy gegen die Leiche der ECHTEN Madeleine „austauschen“ und letztere hinauswerfen. An Scotties entsetzten Augen vorbei fällt die bereits Tote in die Tiefe. Das Gericht befindet, dass die ECHTE Madeleine geistesgstört gewesen sei und somit kein Schatten des Verdachts auf Scottie oder Elster fallen kann. Von Judy Barton ist natürlich keine Rede.

Erst mit der Wiedererschaffung Madeleines wird es so richtig interessant, finde ich, ganz im Gegensatz zu den damaligen Kritikern. Hier entsteht wirklich Suspense in Hitchcocks Sinn: Wird es Scottie gelingen, den früheren Betrug, der ihn um den Verstand brachte, aufzudecken und zu vergelten? 

ENDE SPOILER

Die zweite Ebene: Obsession

Die zweite Ebene beantwortet die Frage, wie ein derartig fieser Plot überhaupt mit echten, fühlenden Menschen funktionieren kann. Scotties könnte es ja wie seine Freundin Midge machen und die „Bessessenheit“ Madeleines (= Judys) hinterfragen und sie als völlig durchgeknallt abschreiben. Doch er tut genau das Gegenteil, und erst dadurch kommt die Sache ins Rollen. 

In Scottie wirken zwei Faktoren auf unheilvole Weise zusammen: Er ist ein hoffnungsloser Romantiker, der in der Vergangenheit lebt, und er hat Höhenangst. Beide Faktoren erzeugen in ihm nicht nur physische Vertigo (Schwindelgefühl mit Empfindung des Fallens), sondern auch eine psychologische Vertigo. Diese besteht darin, dass ihn ein Geheimnis ebenso anzieht wie es ihn abstößt. Die falsche Madeleine zieht ihn mit ihrer scheinbaren Besessenheit, die aus der Vergangenheit rührt, ebenso magisch an, wie ihn die Erfüllung der aufkeimenden Liebessehnsucht zu ihr anfangs abstößt. Kann das Ideal tatsächlich Wirklichkeit werden?

Die Sehnsucht siegt, die Erfüllung ist zum Greifen nahe, und in der Remise unter dem Glockenturm besiegelt Scottie sein Schicksal: Der Kuss ist völlige Hingabe an das romantische Ideal, das er erreicht zu haben glaubt. Dass dies eine Schimäre ist, ahnt er bis zum Schluss des zweiten Teils nicht. Eine Ahnung erhält er jedoch, als sich ihm „Madeleine“ entzieht und anscheinend in den Tod stürzt. Die Vernichtung seines Ideals im Moment seines Erlangens zerrüttet ihn seelisch. Man hat ihm, um es poetisch auszudrücken, das Herz aus dem Leib gerissen. 

Der Albtraum, der furios inszeniert ist, fasst Vertigo und Schuldkomplex auf das Erschreckendste zusammen. Die famose Musik Bernhard Hermanns verfehlt ihre Wirkung keineswegs – sie tritt wie eine vierte Figur auf: kein vernünftiger Beobachter wie Midge, sondern ein Chor, der das Innenleben der Figuren beredt zur Sprache bringt (und den Zuschauer raffiniert manipuliert).

Selbst in der Freiheit, die Scottie wiedererlangt, ist er ein wandelnder Toter in einem Schattenreich aus Erinnerungen. Die einzige Hoffnung, die er überhaupt finden kann (Midge kommt nicht mehr vor, denn das Realitätsprinzip hat abgedankt), besteht in der Wiedererschaffung der toten Geliebten aus Judy Barton, nicht ahnend, dass er einen Betrug aufdecken wird, der ihn das selbsterschaffene Ideal noch einmal kosten wird. 

Der Moment, als Judy Barton hundertprozentig, in jedem winzigen Detail, zu Madeleine geworden ist (die selbst ein Betrug war), stellt einerseits Scotties Erlösung und zum anderen seine tragischste Niederlage dar: Er hat den Betrug, die Charade aus dem ersten Akt, noch einmal aufgeführt: Judy muss wie eine Schauspielerin nicht nur eine Andere spielen, sondern sie auch vollständig reinkarnieren. Dass er ihren ersten Betrug aufdeckt, ist nicht so schlimm, denn auch er selbst hat eine Charade inszeniert, warum also nicht auch andere? Wir sind alle Spieler. „Und die ganze Welt ist unsre Bühne.“

Judys Obsession

Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang die innere Einstellung Judy Bartons, gespielt von Kim Novak. Eigentlich rät ihr der Verstand, die Finger von diesem Spinner zu lassen, selbst wenn er ihr noch so viel Geld bietet, um sie auszuhalten. (Und sie schreibt auch schon den Brief, um ihn loszuwerden.) Doch ihr Herz sagt ja. 

Denn die erste Charade ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie hat sich in Scottie verliebt, weil seine Liebe und seine Begehren ihr gegenüber keineswegs gespielt, sondern in jedem Moment echt war. Und wäre es nicht wunderbar, wenn sie erneut seine Liebe gewönne, so dass sie ein richtiges Leben an der Seite eines liebenden Mannes führen könnte, den sie sowieso noch liebt? Und es schadet einem Mädchen vom Lande wohl nicht, ein Leben an der Seite eines betuchten Mannes zu führen. Merke: Auch Judy lebt das romantische Ideal, auch sie ist besessen von einer verlorenen Liebe, die sie zurückgewinnen will. Auf tragische Weise gelingt es ihr auch: Indem sie, um seine Liebe zu erringen, ihre eigene Identität aufgibt und zu Madeleine wird, die selbst eine Fälschung war. Die Fälschung einer Fälschung zu spielen, ist mindestens ebenso tragisch wie der Fall Ferguson.

Ebene Nummer 3: Makeover en gros

Jetzt ist es an der Zeit, von der dritten Ebene zu sprechen: den drei Makeovers.

Samuel Taylor und Hitch haben die drei Makeovers zwar gut verpackt, doch sie haben sie auf drastische Weise in den Film integriert. Unter Makeover verstehen ich und die Kommentatoren, die in den Extras (s.u.) zu Wort kommen, eine vollständige Umwandlung eines Menschen zu etwas, was er vorher nicht war, zumindest äußerlich.

Makeover Nr. 1: Carlotta Valdes existiert zwar nur in Zeichen und Zeugenaussagen, doch duch die Fiktion, die Gavin Elster Scottie auftischt und die der Bibliothekar später untermauert, erlangt sie Faktenstatus. Carlotta kam vom Lande, aus der Klosterschule San Juan Bautista, lernte aufgrund ihrer Schönheit einen reichen Mann kennen, der sie aushielt und sie schwängerte. Sie wurde aus diesem Stand der Gnade gerissen, als er ihr das Kind wegnahm und sie in die Gosse stieß. Sie verfiel dem Wahnsinn und fragte Passanten, ob diese ihr Kind gesehen hätten, bevor sie schließlich Selbstmord beging.

Makeover Nr. 2: Gavin Elster, ein reicher Unternehmer, engagiert die kleine Verkäuferin Judy Barton aufgrund ihrer physiognomischen Ähnlichkeit mit seiner Ehefrau Madeleine und trainiert sie derart, dass sie in der Lage ist, als Madeleine durchzugehen und Scottie Ferguson, einen arbeitslosen Cop, zu täuschen. Sie muss unter anderem einen anderen Akzent sprechen, der ihrer Klasse angemessen ist. Elster sagt, Madeleine sei von Carlotta besessen und neige zu Selbstmordabsichten. Der Plot gegen Scottie und die ECHTE Madeleine gelingt. Gavin verschwindet straffrei, Scottie landet in der Irrenanstalt und Judy wieder in ihrem alten Leben. Denn ihr ergeht es genau wie Carlotta. Statt sie aus Dankbarkeit mit an die Ostküste zu nehmen, verstößt Elster sie wie ein benutztes Werkzeug.

Makeover Nr. 3: Wie oben skizziert, macht Scottie, ohne es zu ahnen, mit Judy genau das Gleiche wie Elster. Allerdings mit einem unerwarteten Ergebnis und aus anderen Gründen.

Der gemeinsame Nenner ist unschwer zu erkennen: In den ersten beiden Fällen sind es „men of power and freedom“, wie sich Elster ausdrückt, die Frauen benutzen. In Fall Nummer drei sieht es so aus, als würde auch Scottie zu ihnen gehören, doch es zeigt sich, dass ihn die Obsession antreibt und der Wille, sich selbst davon zu befreien. Die Ironie dabei: So wie die falsche Madeleine von Carlotta „besessen“ war, so ist er von der falschen Madeleine besessen und so muss nun auch Judy Barton mit Madeleine zur Deckung gebracht: Ein Geist tritt ins Leben. Pygmalion hat es nun endlich geschafft, Galathea zum Leben zu erwecken. Doch das Muster hat einen Webfehler: So wie Tristan seiner ersten Isolde nachtrauert (die König Marke heiraten muss) und sie in einer zweiten Isolde wiederzuerschaffen sucht, so muss auch dieses Makeover tragisch enden. (Das Motiv „Tristan und Isolde“ klingt einmal auch in der Musik an, als Bernhard Hermann auf Wagners „Liebestod“-Thema anspielt.)

Das Makeover kann jeweils nur funktionieren, wenn die Frauen mitspielen. Sie erhoffen Liebe und materielle Sicherheit, doch sie werden benutzt. Scottie benutzt Judy ebenfalls, aber aus einem anderen Grund: Ihr Makeover ist Reinkarnation und Exorzismus zugleich – der Effekt der psychologischen Vertigo, bei der der Betroffene das Geheimnis sowohl anziehend als auch abstoßend findet. Judy willigt aus Liebe ein: Die Charade muss zur Wirklichkeit werden, um jeden Preis. Und das Ergebnis kann nur tragisch ausfallen. Doch dann ist Scottie frei. Dass Judy stirbt, war von Scottie nicht beabsichtigt. Als Judy aber die dunkle gestalt im Glockenturm sieht, glaubt sie entweder den Tod oder den Geist zu sehen, den sie verkörpert – und weicht zurück, ins Nichts. Die Fälschung einer Fälschung ist nicht lebensfähig.

Die vierte Ebene

Auf der vierten Ebene sind die Parallelen zu Hitchcocks eigenem Geschäft offensichtlich, und das ist der Grund, warum dies sein persönlichster Film ist. Der Regisseur alias Pygmalion unterzieht nicht nur sein eigenes Tun als Initiator von Makeovers einer moralischen Kritik, sondern auch das Bedürfnis von Schauspielern, in Rollen zu schlüpfen, wie auch das Bedürfnis des Zuschauers, eine Charade vorgespielt zu bekommen und an seltsame Ideale von romantischer Liebe zu glauben, die andere stellvertretend für ihn zu erringen suchen – und idealerweise sogar erlangen. 

Die Analogien ließen sich noch weiter treiben. Aber diese Metaebene ist es meines Erachtens, die „Vertigo“ heute immer noch für Filmschaffende und –genießer in seiner Aussage so bedeutsam und wichtig macht. (Man denke beispielsweise an den Film „Being John Malkovich“.)

Die Blu-Ray

Technische Infos: 

  • Bildformate: 1,85:1 (Widescreen)
  • Tonformat: DTS Digital 5.1 in Japanisch, DTS HD Master Audio 5.1 in Englisch, DTS Digital 2.0 (Mono) in Deutsch, DTS Digital 2.0 (Mono) in Spanisch, DTS Digital 2.0 (Mono) in Italienisch, DTS Digital 2.0 (Mono) in Französisch
  • Untertitel: Deutsch, Spanisch, Koreanisch, Italienisch, Japanisch, Cantonesisch, Französisch, Dänisch, Norwegisch, Schwedisch, Mandarin, Finnisch, Isländisch, Niederländisch
  • EXTRAS
    • „Besessen von ‚Vertigo’ / Obsessed with VERTIGO“: Making-of (mit Untertiteln, ca. 27 Minuten)
    • Partners in Crime: Alfred Hitchcock’s Collaborators (54:49 min)
    • Truffaut-Interviews (14:15 min)
    • Erweiterter Schluss (1:52 min)
    • The VERTIGO Archives (69 min): Production Designs
    • Original-Kino-Trailer (2:20)
    • Trailer zur Wiederaufführung (1:20)
    • 100 Years of Universal: The Lew Wasserman Era (8:50)
    • Audiokommentar von William Friedkin

Mein Eindruck: die Blu-Ray

Die Blu-ray bietet ein gegenüber der DVD nochmals verbessertes Bild, denn es hat eine höhere Auflösung. Der Ton ist der gleiche geblieben, liegt aber nun in einer Vielzahl von Sprachen und Untertiteln vor. In der ersten Featurette erklären die Restauratoren, welche Mühe sie mit dem vorhandenen Material hatten. 

EXTRAS

„Besessen von ‚Vertigo’ / Obsessed with VERTIGO“: Making-of (mit Untertiteln, 29:10 Minuten)

Die Filmrestaurateure Robert Harris und James Katz führen durch die halbstündige Dokumentation, die Laurent Bouzereau produzierte, während Harrison Engle Regie führte. Sofort holen sie den Regisseur Martin Scorsese hinzu, der uns sagt, was das Besondere an „Vertigo“ war, als er ihn 1958 oder so zuerst sah: Die Vistavision-Bilder (s.o.) waren strahlend und richtig breit: Widescreen in 70mm-Film. „Vertigo“ sei für ihn zu einer Obsession geworden und er schätze ihn heute als Hitchcocks persönlichsten Film. Als er 1951 erstmals in San Francisco war, kam es ihm vor wie Paris und sehr eignet als Schauplatz eines „murder mysterys“. 

Immer wieder wird die Chronik des Films durch die Chronik der Restaurierung unterbrochen. Da diese Geschichte jedoch ziemlich technisch ist, sollte man sich die Bilder dazu anhören. Eine textliche Erklärung würde nur Verwirrung stiften.

Die beiden Restauratoren werden von Hitchcocks „Associate Producer“ Herbert Coleman begrüßt. Der alte Mann zeigt ihnen die Mission San Juan Bautista, auf der sich der zweimalige Höhepunkt des Films abspielt. Seine Tochter habe die Mission gefunden. Es gebe richtige Vertigo Tourist Tours, bei denen sich die Besucher immer verwundert die Augen reiben: Es gibt keinen Glockenturm! Der echte brannte schon längst ab, und der im Film zu sehende wurde als Matte Painting einmontiert.

Die meisten Kommentare gehen auf die zahlreichen visuellen Tricks ein, so etwa auf den genialen Kameratrick, der Höhenangst suggeriert: Dabei fährt die Kamera zurück, während sie gleichzeitig einzoomt. Dieser Trick wird von Peter Jackson in „Der Herr der Ringe: Die Gefährten“ eingesetzt, um einen der Schwarzen Reiter auf der Straße nach Bree anzukündigen (wir sehen Frodos Blickwinkel).

Zu meinem Erstaunen hörte ich erstmals von dem Schicksal der Rückblende, in der sich Judy Barton an ihre Rolle als Madeleine erinnert. Die Szene war von Anfang drin (so wie jetzt), wurde dann aber unter immensen Folgekosten und mit Ärger auf der Chefetage wieder herausgenommen, dann wieder eingefügt. Dass dies die Arbeit der Restauratoren nicht gerade einfacher machte, kann man sich vorstellen. Das letzte Wort unter den Zeugen hat Scorsese, der wieder die Ehrlichkeit des Blicks auf die Wirklichkeit lobt. Gemeint ist vor allem die Realität des Filmgeschäfts, aber die Vorstellung romantischer Liebe. Das braucht er nicht zu sagen.

Die Restauration des Films dauerte zwei Jahre und kostete Universal 1 Million Dollar. Dafür mussten beispielsweise alle Geräusche neu eingespielt werden, während die Musik komplett bei Paramount erhalten war. 

Partners in Crime: Alfred Hitchcock’s Collaborators (54:49 min)

Dieses schöne, informative Feature stellt folgende Mitarbeiter vor: 

  1. Edith Head: Die vielfach ausgezeichnete Kostümdesignerin arbeitete bereits an „Rear Window“ für AH und entwarf u.a. Grace Kellys wunderbare Kreationen. 
  2. Saul Bass: Er entwarf das graphische Design mit dem Spiral-Motiv, das im Vorspann in ein offenes Auge projiziert wird. 
  3. Bernard Hermann: Er schuf die äußerst emotionale, romantische und doch komplexe Filmmusik. Etliche weitere Kollaborationen folgten, etwa bei „Psycho“.
  4. Alma Hitchcock: Mit seiner Frau entwarf AH die Storyline eines neuen Films bis zur Stufe, wo sie in ein Drehbuch umgesetzt werden konnte. Bei VERTIGO waren drei Drehbücher notwendig. Wie immer arbeiteten sie an den Storyboards zusammen. 

Leider fehlen in dieser Reihe der Art Director Henry Bumstead und AH’s Assistenzregisseur Herb Coleman. Sie sind kurz im ersten Feature zu sehen. 

Truffaut-Interview (14:15 min)

1962 führte Regisseur Francois Truffaut mehrere Interviews mit Hitchcock. Dieser Ausschnitt von einer guten Viertelstunde beschäftigt sich nur mit „Vertigo“. Eine Simultandolmetscherin übersetzt zwischen Englisch und Französisch, was ein klein wenig stört. Aber sowohl Truffaut als auch AH liefern wertvolle Statements über den Film, begleitet von illustrierenden Szenen und Fotos. 

AH gibt zu, in der Friedhofszene einen „Nebelfilter“ eingesetzt zu haben, was der ganzen Szene einen geisterhaften Anstrich verleiht. AH gesteht, durchaus zu träumen, allerdings stammen seine Träume aus dem Jahr 1916… Truffaut findet, AH’s Filme seien Tagträume und wiesen Züge von Märchen auf (was ihn und die Novelle Vague nicht daran hinderte, sich für AH zu begeistern). AH sagt, dass er nicht am Wirklichen interessiert sei. 

Interessant ist der völlig andere Schluss des Films im Vergleich zum Buch. Im Buch erfolgt die Überraschung erst ganz am Schluss, doch Judy Bartons Rückblende auf die erste Szene im Glockenturm, also „den Mord“, stellt die Spannung auf den Kopf: Indem er alles verrät (und damit jede Krimiregel bricht), kommt das auf, was AH „suspense“ nennt: Der Zuschauer fragt sich, was Scottie Ferguson tun wird, sobald er die Wahrheit über Judy Barton, die Mordkomplizin, erfährt. Im Gegensatz zum Publikum weiß Scottie NICHT, was als nächstes kommt. Außerdem: Die Frau Judy Barton will nicht in „Madeleine Elster“ zurückverwandelt werden, denn Scottie hat sie ja praktisch bereits enttarnt. 

AH: Scottie erzeugt sich mit Hilfe Judy Bartons das Bild von einer Frau, mit der er ins Bett gehen kann – denn das Einkleiden einer Frau ist dasselbe wie sie auszuziehen. Erst wenn Judy ihr Haar exakt so hochsteckt wie „Madeleine Elster“ (die sie ja selbst spielte), ist sie vollständig nackt und ihm ausgeliefert. Das ist Nekrophilie, findet AH, also Liebe mit einer Toten. 

AH gibt auch zu, dass es ein logisches Loch in der Storyline gebe: Gavin Elster, der Mörder und Drahtzieher der Vertuschungsinszenierung, hat keine Garantie dafür, dass Scottie es trotz seiner Höhenangst nicht doch die Treppe im Glockenturm hinaufschaffen und das Komplott entdecken würde. 

Am Schluss gibt AH zu, dass der Film an den Kinokassen nicht gut lief (es gab ganz schön Konkurrenz, etwa „Houseboat“), aber immerhin seine Kosten einspielte (Break-even). Es gibt dem schlechten Marketing die Schuld an diesem Beinahe-Misserfolg. Das ist angesichts des Lobs für PR Designer Saul Bass in den anderen Featurettes recht bemerkenswert. 

Erweiterter Schluss / Filmende für das Ausland (1:52 min)

Neben der Überraschung mit der herausgeschnittenen und wieder eingefügten Rückblende hörte ich erstmals auch von einem erweiterten Schluss. In einem Gespräch mit Midge sollte Scottie davon erfahren, davon Gavin Elster wegen Mordes verurteilt worden sei. Das ist eine nachträgliche Rechtfertigung von Scotties Behandlung von Judy, also eigentlich überflüssig. Ein loses Ende, nämlich Elster, wird eliminiert. Die etwa 30 Sekunden handlung weisen keinerlei Dialog zwischen Midge und Scottie auf, sind also auch in künstlerischer Hinsicht unnötig. 

Die Archive von VERTIGO (69 min): Production Designs

Dieser umfangreiche Teil des Bonusmaterials besteht aus einer selbstablaufenden Diaschau, die weder Untertitel noch Musik aufweist, also extrem langweilig ist. Sie bietet in über 400 Anzeigen folgende INHALTE:

  • Location-Zeichnungen und Storyboards von der Hand Henry Bumsteads, des Art Directors, und von AH selbst. Hier zeigen sich zahlreiche Abweichungen gegenüber der Endfassung, so etwa in der Inszenierung der Waldszene. 
  • Produktionsfotografien: Sie halten durchaus ein paar Überraschungen bereit, so etwa eine lachende Kim Novak neben James Stewart. Auch Barbara Bel Geddes, die später Miss Ellie in der TV-Serie „Dallas“ spielte, ist mit von de Partie, ebenso wie Tom Helmore (G. Elster) und Joanne Genthon (Carlotta Valdez). AH ist neben Vistavision-Kamera zu sehen, die ein wahres Monstrum darstellt. Bernard Herrmann, der Komponist, ist wieder mal eingenickt. Kostümdesignerin Edith Head sitzt ihrer Sammlung von acht oder neun OSCARs. Bei der Premiere wird eine Torte angeschnitten, wie es sich gehört – und das nach AH’s Gallenblasen-Operation!
  • Das Marketing beginnt seine Arbeit und produziert mit den Entwürfen von Saul Bass Poster, die ich nicht besonders toll fand – und AH übrigens auch nicht (s. Interview mit Truffaut). Aushangfotos („lobby cards“) sind in Rotorange gehalten, das ich besonders abstoßend finde.

    Das Paramount-Studio produzierte jede Menge PR-Aufnahmen von Stewart, Novak und den Nebendarstellern. Dabei ist Stewart zwischen zwei eifersüchtigen Frauen dargestellt, die beide (!) von Kim Novak gespielt werden. Dieses Motiv findet sich ja im Film so nicht wieder, aber das hat die PR-Abteilung wohl nicht gestört.

    Filmplakate aus Frankreich, Belgien und Spanien werden von Postern für die Neuausgabe von 1996 abgelöst, die sich v.a. durch einen hübschen Druckfehler auszeichnen („Remebering“ statt „Remembering“). Am Schluss steht ein Foto der beiden verdienstvollen Restauratoren Katz und Harris.
  • Die „Production Notes“: Hier gibt’s kein Vertun: Dies ist ein regelrechtes BUCH! Natürlich beginnt es damit, dass der Film über den grünen Klee gelobt wird; ist ja auch ein Meisterwerk. Aber worin bestehen seine herausragenden Qualitäten, fragt sich der Filmkenner. Die drei Hauptdarsteller Stewart, Novak und Bel Geddes geben ihre Eindrücke wieder. Anmerkungen über AH, die Musik von B. Herrmann sind da schon hilfreicher.

    So nimmt Friedkin übereinstimmend die Information auf, dass es sich bei dem musikalischen Hauptmotiv um eine Abwabndlung von Richard Wagners „Liebestod“-Motiv aus der Oper „Tristan und Isolde“ handelt. Ein andalusischer Fandango-Tanz ist ebenso zu hören wie Motive von Mozart. Brian de Palma hat sich die Musik zu seiner „Vertigo“-Hommage „Obsession“ denn ja auch von B. Herrmann schreiben lassen. 

    Ein weiterer Schwerpunkt der Production Notes gilt der Restaurierung des Films, wobei auf die zahlreichen Schwierigkeiten detailliert eingegangen wird – eine sinnvolle Ergänzung zur entsprechenden Featurette. 

    Bio-filmografische Notizen schließen den Inhalt ab: über AH, James Stewart, Kim Novak, Bel Geddes und sogar über das Restauratorenduo. Dabei sind die detaillierten Angaben über AH insofern fehlerhaft, als seine Jahre (1924/95) in Berlin und München komplett ausgeblendet werden. Das ist insofern bemerkenswert, als er dort seinen expressionistischen Stil erworben hat, der bei ihm zum „pure cinema“ wurde: Bilder, Musik und Geräusche erzählen die Geschichte, die Dialoge sind Nebensache. 

    Den Schluss des Buches bestreiten die Credits. So gehört sich das. 
  • Original-Kino-Trailer (2:20 min): So erschien der Trailer bei uns im Kino, also mit einem Off-Kommentar, der sehr werblich ist. Er stammt aus der Zeit vor der Restaurierung, und das Ergebnis ist einfach schrecklich. Die inhaltliche Ausrichtung liegt schwerpunktmäßig auf den Aspekten Suspense und rätselhafte Liebesgeschichte, was zwar nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit ist. 
  • Restaurierter Trailer zur Wiederaufführung (1:20 min): Dieser Trailer, der das Auge durch seine prachtvollen Farben entzückt, stammt aus der restaurierten Fassung. Inhaltlich legt er Wert auf die dramatische Geschichte des Polizisten, der sich obsessiv in die observierte Person verliebt und von dieser betrogen wird. Der Trailer vergisst nicht, auf die technischen Vorteile hinzuweisen: Erstmals sieht man eine 70-mm-Fassung in einem optimalen Sound gemäß dem Tonstandard DTS-Stereo. 
  • 100 Years of Universal: The Lew Wasserman Era (8:50 min): Lew Wasserman, geboren 1913, arbeitete zunächst bei MCA als Agent. Um 1950 änderte er die Spielregeln für Filmstars, indem er erreichte, dass sie mehr Geld bekamen, etwa durch Gewinnbeteiligung, Auslandsrechte usw. Er fand auch das Aufkommen des Fernsehen positiv, denn damit tat sich ein neuer Absatzkanal auf. 1962 kaufte MCA das Universal-Studio, so dass mehrere Blockbuster wie etwa „Der weiße Hai“ – der erste Blockbuster überhaupt – produziert werden konnten. Er starb 2002 im Alter von fast 90 Jahren. 
  • Audiokommentar von Regisseur William Friedkin (dt. Untertitel): William Friedkin, der Regisseur von „Der Exorzist“, drehte 1966 die letzte Episode für die TV-Reihe „AH Presents“. Nachdem ihn AH wegen seiner fehlenden Krawatte kritisiert hatte, hatte er noch einiges wiedergutzumachen. 

    Die Filmmusik Hermanns basiere angeblich auf Richard Wagners Motiv „Liebestod“ aus der Oper „Tristan und Isolde“, ist also sehr romantisch. Der Begriff „vertigo“ bezeichne eigentlich ein nicht unangenehmes Schwindelgefühl, hier aber eine Höhenangst in Kombination mit Schuldgefühlen (der vom Dach fallende Polizist, die vom Glockenturm fallende Geliebte). Die Vorlage lieferten die französischen Autoren Boileau & Narcejac (von ihnen stammt auch die Vorlage zu „Diabolique / Die Teuflischen“). 

    Der Plot an sich sei unplausibel, meint Friedkin, aber AH, stark von Poe beeinflusst, machte den Film zu seinem persönlichsten. Er zeige AH’s eigene Obsession mit einem bestimmten Typ Frau. Der Junge sublimierte seine Obsession durchs Geschichtenerzählen in Filmform. AH bevorzugte kühle, zugeknöpfte Blondinen, denn er fand sie geheimnisvoller und vielversprechender. Novak wehrte sich gegen das graue Kostüm, das für sie als Blondine unvorteilhaft war. Ihr stehen eher Grün, Rot und vor allem Weiß/Schwarz. Im Blumenladen wirkt sie verloren unter all den bunten Farben, doch im Grau scheint sie dem Nebel von San Francisco entstiegen zu sein – was ja in ihrer endgültigen Verwandlung fast der Wahrheit entspricht: „Madeleine“, Scotties Idealbild, kehrt in Gestalt von Judy Barlow 2.0 von den „Toten“ zurück.

    Midge, das genaue Gegenteil von Madeleine/Barlow, spielt nicht, sondern ist sie selbst, nämlich Barbara Bel Geddes. Sie erdet Scottie, doch Madeleine überträgt ihre Obsession mit Carlotta Valdez (1831-1857) auf ihn. Im gleichen Alter von 26, in dem Carlotta Selbstmord beging, stürzt sich auch Madeleine in die Fluten, nur um von Scottie gerettet, ins seine Wohnung gebracht und ausgezogen zu werden. Eine Sünde wurde implizit begangen, und folglich erscheint sie nun in sündhaftem Rot. 

    All diese erste Hälfte des Plot dient nur dazu, Scottie und den Zuschauer zu täuschen. Alles ist ein Film im Film, um Scottie dazu zu bringen, einen Körpertausch zu beglaubigen: Die echte Madeleine Elster wurde ermordet und von Judy Barton gespielt. Scottie nimmt die Rolle des Zuschauers ein, der einem Schwindel aufsitzt – und ein Trauma erleidet. Er hat sich in eine Vision verliebt, die er selbst beschwor. Midge ist verzweifelt, denn nachdem sie Madeleine beschattet hat, erkennt sie, dass sie Scottie zu verlieren droht, und begeht einen peinlichen Fehler. Noch schlimmer: Judy Barton alias Madeleine Elster hat sich in Scottie verliebt und will mit ihm schlafen. Das grenzt an Nekrophilie. Sobald sie „gestorben“ ist, wird sie wieder auferstehen, träumt sie – in der Mission San Juan Bautista nahe Monterrey. 

    Sowohl Gavin Elster (der innerlich jubelt) und John „Scottie“ Ferguson werden von den Schöffen bei einer Anhörung von jeglicher Schuld freigesprochen. Madeleine habe sich selbst in den Tod gestürzt. Dass sie depressiv gewesen sein muss, kann Scottie nur zu gut bestätigen. Die Frage, die sich Midge bang stellt, ist, ob er sich nun wie „Madeleine“ und Carlotta Valdez umbringen wird. In der Tat plagen Fallträume sein Unbewusstes. Doch die Träume weisen auf Ungereimtheiten hin. Es gilt, ein Rätsel zu lösen – und Erlösung zu finden. 

    Nach seiner Entlassung aus der Heilanstalt beginnt er alles zu reakpitulieren, was er erlebt hat: Doch nichts stimmt. Bis er Judy Barton sieht. Dann beginnt ihr Makeover, bis sie „Madeleine“ ist. Er ist nicht mehr der verführte, getäuschte Zuschauer, sondern der Regisseur (genau wie Jeff in „Rear Window“). Im Unterschied zur Buchvorlage erlebt Judy Barton die Szene, in der Scottie betrogen wurde. Nur so entsteht Suspense à la Hitchcock: Wir wissen mehr als der Held. Die spannende Frage lautet: Was wird – mit ihm, mit Judy – geschehen, wenn er die Wahrheit entdeckt? 

    Doch so wie Judy Scottie einst als „Madeleine“ liebte, so liebt sie ihn als Judy immer noch und lässt sich für ihn zu „Madeleine“ verwandeln – eine weitere Totenschändung. Fortan existieren Scottie und Judy in ihrer jeweils eigenen Show, und die Jahrmarktsmusik in der Mission spiegelt das wider (Karrussell). Da Judy Carlottas halskette angelegt hatte, erkennt Scottie den Betrug, den Gavin Elster an ihm begangen hat: Er sitzt neben einer lebendigen Mordkomplizin, nicht neben einer Vision! Und als Makeover-Regisseur erweist sich Scottie als gelehriger Schüler Gavin Elsters, des Mörders der wahren Madeleine Elster. Was wird im Glockenturm passieren, fragt sich der Zuschauer beklommen. Bekenntnisse, Liebesschwüre – kommen sie alle zu spät?

Unterm Strich

Es ist wirklich nicht einfach, die Storyline wiederzugeben, ohne sich in verwirrenden Details zu verlieren. Das liegt aber nicht nur an den drei Drehbüchern, sondern wohl vor allem an der literarischen Vorlage. Deshalb wird der Plot immer wieder für unplausibel gehalten. Dabei ist lediglich extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. 

Wie auch immer: Man schaut einen Film ja nicht bloß aus Gründen der Logik an – dann würden 90% der besten Filme auf dem Müll landen , sondern vor allem wegen der Schauwerte. Und davon gibt es in „Vertigo“ jede Menge: San Francisco ist eine europäische, für AH „kosmopolitische“ Stadt, die mit an der Westküste die liebste ist (weit schöner als L.A.). In der Umgebung gibt es die Wälder voller Mammutbäume, eine wildromantische Pazifikküste, uralte spanische Missionen – und natürlich die Golden Gate Brücke. 

Kim Novak spielt hier ihre beste Rolle und präsentiert Garderobe von Meisterinnenhand, James Stewart ist, wie manche sagen, leider zu alt für die Rolle, denn er fast schon Kim Novaks Vater sein. Aber dafür ist seine Darstellungskunst wie immer kompetent, und AH vertraute ihm seinen künstlerisch wichtigsten Film an. In „Rear Window“ trat Stewart zuvor jedoch viel alerter und humorvoller auf, selbst in einem Gipsbein. 

Was dem Film als Ausgleich fehlt, ist der übliche bissige Humor Hitchcocks. Barbara Bel Geddes‘ Aufgabe ist dieses Ressort, doch sie bekommt leider zuwenig zu tun. Daher mag „Vertigo“ ganz toll als Filmkunst sein – er liegt inzwischen auf Nr. 1 -, aber für Hitchcock- und Thriller-Fans bieten Streifen wie „Frenzy“ oder „Psycho“ handfestere Ware. 

Die Blu-ray

Die Blu-ray bietet ein gegenüber der DVD nochmals verbessertes Bild, denn es hat eine höhere Auflösung. Der Ton ist der gleiche geblieben, liegt aber nun in einer Vielzahl von Sprachen und Untertiteln vor. Gegenüber der DVD wurde der Filmkommentar ersetzt: Hier spricht mit Wlliam Friedkin selbst ein Meister des Fachs. In anderen Featurettes flankieren ihn Regisseure wie Martin Scorsese und Peter Bogdanovich. 

Mima2016: 5 out of 5 stars (5 / 5)

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