„Lolita“ dreht sich um eine rückwärts gewandte Utopie von erfüllter, erlösender Liebe. Es ist zweifellos einer der witzigsten Filme über erotische Anziehung und Begehren, die es gibt, endet aber natürlich ebenso tragisch. Das Besondere an „Lolita“ ist, dass dieses Begehren auf eine 14jährige richtet (bei Nabokov ist sie erst 12) und somit ungesetzlich. Leider scheint sich aber das Leben nicht an die Gesetze zu halten, denn die Begehrenswerte selbst hat es bereits faustdick hinter den Ohren. 

Die DVD bietet eine Filmfassung, die keine Überraschungen mehr enthält, obwohl sie erst ab 18 Jahren freigegeben ist. Es ist einfach nichts zu sehen, was diese Altersgrenze rechtfertigen würde; selbst ein Zwölfjähriger hätte nichts daran auszusetzen. Also macht sich auch das Limit der FSK an der moralischen Frage fest, und darüber ließe sich treflich streiten.

Handlung

1950: Humbert Humbert, der Ich-Erzähler (Jeremy Irons, meist mit hilflosem Hundeblick), fährt in Schlangenlinien über die Landstraßen Neuenglands, verfolgt von mehreren Polizeiwagen. Sirenen, Blaulicht, Verbrecherjagd. Auf seinem Beifahrersitz liegt eine blutverschmierte Pistole, in seinem Gesicht befinden sich Blutspritzer. Die Frage lautet nicht: Was ist geschehen, sondern: Wen hat er umgebracht? Die Antwort auf diese Frage löst eine Spannung aus, die fast den ganzen Film über andauert.

Das Verhalten des Humbert Humbert gegenüber der jungen Miss Dolores Haze, die er in liebevollen Augenblicken „Lolita“ nennt, lässt sich ohne seine Vorgeschichte nicht erklären. 1921 verliebte sich der Jüngling unsterblich in die schöne minderjährige Annabelle, doch die starb bereits vier Monate später an Typhus. Sein Herz war gebrochen. Fortan stand er nur noch auf Nymphen.

1947: Als er 26 Jahre später eine Stellung am Beardsley College in Neuengland, USA, antreten soll, muss er eine Ausweichunterkunft annehmen. Doch Mrs. Haze, ausgezeichnet gespielt von der gut erhaltenen Melanie Griffith, nimmt ihn auf. Die Witwe macht sich Hoffnungen auf eine baldige Heirat. Vielleicht hofft sie auch, dass etwas männliche Autorität einen guten Einfluss auf ihre missratene Gör“ Dolores hätte, mit dem sie sich täglich streiten muss, etwas wenn es um den Kirchgang geht. Doch mit Humbert gerät sie an den falschen, denn kaum ist sein Blick im Garten auf Dolores gefallen, ist es um ihn geschehen. Die Vergangenheit hat ihn eingeholt. In Sekundenschnelle verfällt er der vitalen, kessen und fantasievollen Nymphe, seinem „Dämon“ (Dominique Swain, s.u.). 

Nachdem Mrs. Haze ihren Untermiter geheiratet und ihre Tochter ins Ferienlager geschickt hat, bricht sie seinen Schreibtisch auf, um sein Tagebuch zu lesen. Nachdem sie die grausame Wahrheit über dieses „Monster“ in ihrem Haus erfahren hat, läuft sie aus dem Haus und wird prompt überfahren. Oh Glückes Geschick! Von glücklichen Vorahnungen schier geblendet holt Humbert das Objekt seiner Begierde aus dem Ferienlager ab. Während er noch rätselt, wer der „Charlie“ sein könnte, der sie dort besucht, fällt sie ihm schon um den Hals.

Die erste Nacht, die sie gemeinsam verbringen, in einem Hotel mit dem wunderbar passenden Namen „The Enchanted Hunter“ (Der bezauberte Jäger), bringt für Humbert und Dolores die Erfüllung (hier wurde eine lange Szene von erotischen Fantasien geschnitten), aber auch eine dunkle Vorahnung. Denn auf der Veranda sitzt ein gewisser Mr. Quilty (von Frank Langella gebührend schmierig dargestellt), der seltsamerweise weiß, dass Dolores nicht Humberts Tochter ist. Möglicherweise ist er sogar der geheimnisvolle Charlie.

Der Drehbuchautor Stephen Schiff hat seine Lolita-Fassung als Road Movie aufgefasst. So kommt es, dass zahlreiche Sequenzen in irgendwelchen Motels (siehe Design) spielen, denn „der Ausgstoßene muss immer unterwegs sein, damit man sein Verbrechen nicht erkennt“, wie Humbert weise realisiert. Nicht lange danach merkt Humbert, dass sie verfolgt werden: Quilty? Er lässt seine Komplizin zwar die kennzeichen aufschreiben, doch muss er entdecken, dass sie die Notizen heimlich unkenntlich gemacht hat. Noch unheimlicher wird’s für ihn, als sie mehrmals für kurze Zeit verschwindet und mit einem fremden Mann spricht. Er kommt einfach nicht hinter ihr Geheimnis und vermag sie nicht zu zwingen, es ihm zu verraten. Nach einem Intermezzo am Beardsley College, wo sie in einem Quilty-Theaterstück auftritt, gehen sie wieder auf Tour, doch diesmal verliert er sie endgültig: „Onkel Gustav“ hat sie aus dem Hospital abgeholt.

1950: Drei Jahre später, er arbeitet immer noch am „toten, kalten“ Beardsley, erhält er von Dolores einen Bettelbrief. Sie sei verheiratet und erwarte ein Baby, ob er nicht ein paar hundert Dollar schicken könne? Humbert, immer noch liebeskrank, packt seine alte Pistole aus und macht sich auf den Weg nach Texas. Showtime!

Die Darsteller

Dominique Swain stand zuvor noch nie vor einer Filmkamera, dennoch wurde sie aus rund 2500 Bewerberinnen ausgewählt. Sie strahlt beide Seiten einer 14jährigen aus: das Kindliche einerseits, das Frauliche, ewig Weibliche andererseits. Kurzum: Man nimmt ihr ab, dass sie einen gebrochenen Mann wie Humbert jederzeit zu manipulieren vermag, doch „just like a woman“ auch hemmungslos weinen kann. Dolores nascht laufend Süßigkeiten und ist süchtig nach Kinofilmen und Liebesromanzen-Comics. Dies ist die Schnitstelle zu ihrer dunklen Seite, die sie vor ihrem Lover verbirgt.

Jeremy Irons (Humbert Humbert) liebt es, interessante, quasi gespaltene Persönlichkeiten zu spielen. Leider übertreibt er aber diesmal die Darstellung des liebeskranken Lovers mit dem hilflosen Hundeblick. Allerdings kann dies auch am Schnitt liegen. Denn in den entfallenen Szenen zeigt er Humbert Humbert als humorvollen Menschen, der auch kritische Ansichten äußert (leider über das falsche Objekt, nämlich die Amerikaner – tsts!). Doch sein Humbert mit der Pistole in der Hand ist gebührend furchteinflößend.

Melanie Griffith (Mrs. Haze) ist ungefähr im gleichen Alter wie Humbert, also um die 40. Sie glaubt an die christlich-sozialen Werte. Ihr Haus spiegelt ihre Persönlichkeit wider: Aufgeräumt, proper, sozialkompatibel. Schade, dass sie keine dunkle Seite hat.

Frank Langella spielt den Medienmann und Pornoproduzenten Quilty, „die dunkle Seite Humberts“, wie Irons andeutet. Er sei der Humbert, der keine Erlösung/Befreiung erhalte. Sein Tod erscheint unausweichlich. Er erinnert an den Pornoproduzenten in „L.A. Confidential“.

Die Musik

Wehmütige Klavier- und Streichernoten passen durchaus zum Thema, doch entstammen die Sequenzen einer Zeit, die für 1947 unpassend ist. Es ist die Musik, die Humbert in seinem Kopf hört, wenn er an Liebe denkt, also die Liebe von 1921. Kein Wunder, dass sie an Gustav Mahlers 5. Symphonie und ihr Adagietto gemahnt, die im Viscontis Film „Der Tod in Venedig“ so eindrucksvoll eingesetzt wurden – auch dies eine Geschichte der Besessenheit eines alternden Mannes von der Jugend. 

Im krassen Gegensatz dazu steht die moderne Musik, die Dolores immer und überall, wohin sie auch kommt, auflegt. Sie ist süchtig danach, Blues, Jazz, schmalzigen Pop zu hören. Dies ist 1947, der Krieg ist gerade mal eineinhalb Jahre vorüber, und das Leben der Amerikaner richtet sich auf neue Horizonte. Gemeinsam mit Humbert erkundet sie das amerikanische Territorium, erobert es, indem sie sich „dort draußen“ fortpflanzt. Humbert, der Mann der Alten Welt, kann da nicht mithalten. Es ist so einfach, ihn zu benutzen und dann loszuwerden.

Das Produktionsdesign

Wie die Produktionsnotizen auf der DVD verraten, haben die leute von Adrian Lyne und des Produzenten Mario Kassar lange suchen müssen, bis sie bei den Locations fündig wurden. Lolitas Haus etwa steht nicht in Neuengland, sondern in Wilmington, Delaware, also viel weiter südlich. Und Motels, die wie indianische Wigwams aussahen, gab es wirklich. Kurzum: Das Setting ist immer und überall hundertprozentig stimmig. Denn „Lolita“ ist ein historisch erzählender Film; seine Akteure sind nur aus ihrer Zeit heraus zu verstehen. 

Die Regie

Adrian Lyne wollte wieder einmal, nach „Die verhängnisvolle Film“, einen Film machen, der Kontroversen auslöst. Das ist ihm voll gelungen: Er hatte ewig zu kämpfen, bis eine zurechtgestutzte Endfassung von den jeweiligen nationalen Zensurbehörden in die Kinos gelassen wurde. Schließlich geht es ja um ein heißes Thema, nicht wahr? Und er hatte zudem drei Drehbuchschreiber zu verschleißen, bis eine schlüssige Story zustandekam, von einem Journalisten! Immerhin ein Journalist, der für den „New Yorker“ schrieb: Stephen Schiff.

DVD-Infos

  • Deutsch/englisch Dolby Digital 5.1
  • Extras
    • Audiokommentar des Regisseurs Adrian Lyne
    • Making-of-Featurette
    • Kinotrailer
    • Hinter den Kulissen
    • Produktionsnotizen
    • Darsteller und Mitarbeiter (Cast & Crew)

Fazit

Adrian Lynes „Lolita“ ist ebenso witzig wie die Fassung von Stanley Kubrick. Doch wenigstens erschöpft sich Humberts Liebesdienst an Lolita nicht im Lackieren ihrer Zehennägel. Bei Lyne darf Humbert viel weitergehen, und so wird plausibel, dass er sie schließlich auch bezahlt, wenn sie nur mit ihm zusammen ist.

Doch die geschmackvolle Oberfläche des Films, die edle Musik und das stimmige Ambiente der Szenen, sie täuschen den Zuschauer über das, was darunter liegt und was Lolita erst bei Humbets letztem Besuch enthüllt: Schon vor ihrer ersten Nacht mit Humbert war Dolores eine „gefallene Unschuld“ und führte dieses Leben auch weiter. (Interessanterweise geschah dies erst, nachdem ihre Mutter sie quasi „verstoßen“ hatte.) Demzufolge war die Vernarrtheit in dieses Mädchen von Anfang bis Ende eine grandiose Selbsttäuschung. Am Ende steht Humbert blutbespritzt irgendwo in Neuengland und schaut in das französische Städtchen des Jahres 1921 hinab, wo er Annabelle liebte.

Man kann es Adrian Lyne ankreiden, dass er den Zuschauer so lange über die Wahrheit täuscht. Doch man sollte auch bedenken, dass wir alle Ereignisse aus dem Blickwinkel Humberts betrachten. Wir bekommen nur seine Illusionen zu sehen, als wäre er ein Bühnenmagier. Wer die Wahrheit bemerken will, der muss um Humberts Blickwinkel „herumsehen“, und das erfordert eine nochmaliges Betrachten des Films.

Unterm Strich

Viele Bilder dieses schönen Films bleiben im Gedächtnis haften, insbesondere der erste Anblick von Dolores, als Humbert sie im Garten bei ihrer Lieblingsbeschäftigung sieht: dem Bewundern von Hollywoodstars. Ein Europäer wie Bunuel „Das Objekt der Begierde“) hätte die Story vielleicht nicht so gelackt erzählt, sondern noch doppelbödiger. 

Von der DVD kann man kaum mehr verlangen: Sie ist komplett ausgestattet und mit schönen Animationen versehen.

2 Gedanken zu „Adrian Lyne: Lolita“
  1. Hmmm, du schreibst in der Einleitung und im Fazit davon, dass der Film ‚witzig‘ ist. Am Anfang dachte ich ja, es wäre ein Verschreiber, aber da du noch einmal am Ende darauf zurückkommst, scheint das deine Meinung zu sein. Ich hatte den Film gar nicht witzig in Erinnerung. Hab den aber auch vor sehr langer Zeit gesehen (und dann nie wieder)…

  2. Ich weiß nicht ob Mima2016 hier rein schaut. Wenn ich das nächste mal mit ihm schreibe, weiße ich ihn mal auf deinen Kommentar hin.

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