Paris, um die Jahrhundertwende 1900. Im Apollonide, einem luxuriösen Edelbordell, suchen Männer aus besseren Kreisen nach Zerstreuung und leben dort ihre Fantasien aus. Zwölf junge Frauen sollen ihnen nachts ihre Wünsche erfüllen. Doch das käufliche Idyll steht vor dem Aus: Die Pariser Stadtregierung wird Bordelle schon bald generell verbieten. Was wird dann aus den jungen Damen? (Verleihinfo) 

Hinweis: Dies ist kein Porno, und wer einschlägige Inhalte sucht, muss woanders suchen. 

Filminfos

  • O-Titel: L´Apollonide (Souvenirs de la maison close) | House of Tolerance (F 2010/11)
  • Dt. Vertrieb: Eurovideo/NFP
  • VÖ: 29.11.2012
  • EAN: 4009750205877
  • FSK: ab 16
  • Länge: ca. 121 Min.
  • Regisseur: Bertrand Bonello, Amelie Supau
  • Drehbuch: Bertrand Bonello, Barbara Canale
  • Musik: diverse
  • Darsteller: Hafsia Herzi (Samira), Céline Sallette (Clotilde), Jasmine Trinca (Julie), Adele Haenel (Lea), Alice Barnole (Madeleine), Iliana Zabeth (Pauline) Noemie Lvovsky (Marie-France) u.a.

Handlung

Die zwölf Mädchen im Pariser Bordell Apollonide sind schön, verführerisch und den Männern dienstbar. Tagsüber schlafen sie aus, leben bescheiden in ihren Wohnkammern und bereiten sich wieder auf die nächste Nacht vor. Am Abend spielen sie mit den meist älteren Herrschaften, trällern Lieder und hüten die zwei Kinder von Madame, der Chefin. 

Unter dem strengen Regime von Madame haben es die Mädchen noch relativ gut, denn sie müssen nicht auf der Straße anschaffen gehen. Aber die meisten sind bei ihr hoch verschuldet, und die Chancen auf ein normales bürgerliches Leben sind gering. Bei aller Lebensfreude und Solidarität untereinander sind die Frauen an das Bordell gebunden. 

Ständig droht die Gefahr, sich mit der Syphilis anzustecken, was auch tatsächlich einer von ihnen widerfährt. Jeden Tag sind die Mädchen den Fantasien ihrer Freier ausgeliefert. Eine muss Geisha spielen, die andere eine Gliederpuppe. Deshalb ist ein gemeinsamer Ausflug aufs Land ebenso selten wie befreiend, denn die Frauen dürfen nacktbaden, unbeobachtet von begehrlichen Männerblicken. Mädchen wie Clotilde und Samira träumen davon, aussteigen zu können oder hoffen, dass einer der Kunden sie freikauft. Clotilde ergibt sich dem Opiumrausch, denn sie ist schon zwölf Jahre hier und der „ennui“ hat sie gepackt: tödliche Langeweile. 

Als die erst 15-jährige Pauline Dehaye neu in das Haus kommt, brechen Spannungen auf. Sie dient sich zur extravaganten Geisha hoch, die in Champagner badet. Unterdessen hat die schöne Madeleine ein schreckliches Erlebnis: Ihr Stammkunde Francois zieht ein Messer, schiebt es in ihren Munde und zerschneidet ihre Mundwinkel. Sie überlebt, doch fortan will kein Mann sie mehr haben. Bis einer von ihnen auf eine seltsame Idee verfällt: Sie soll als „Frau, die immer lächelt“ auf einer Party der Oberen Zehntausend auftreten…

Das 20. Jahrhundert bricht an, und neue Schrecken kündigen sich an. Nach dem Willen der Stadtverwaltung, gegen die Madame einen Kampf gegen Windmühlen geführt hat, sollen alle Freudenhäuser in Paris geschlossen werden. Was soll nun aus uns werden, fragen sich die Frauen. Die noch junge Pauline geht und Julie will ihren Stammkunden heiraten. 

Auf einem von einer melancholischen Stimmung getragenen Maskenball nehmen die Prostituierten und ihre Stammkunden Abschied voneinander. Dabei gilt es auch noch, eine offene Rechnung mit einem Francois, dem Messerkünstler, zu begleichen…  

Mein Eindruck

Madeleines Schrei und ihr blutverschmiertes Gesicht sind ein echter Schocker! Doch wie konnte es dazu kommen, fragt sich der Zuschauer ab dem ersten Viertel des Films, und zahlreiche Schnipsel dieser Ur-Szene führen den Zuschauer zeitlich zurück, bis das Rätsel gelöst ist. Auf diese Weise folgt er dem Spannungsbogen, den das Drehbuch raffiniert aufgebaut hat.

Die Messerszene mit Madeleine und Francois bildet das sinngemäße Gerüst des Films, die innere Wahrheit sozusagen, um die alle Äußerlichkeiten herumgebaut sind. Der Freier übt seine Macht ultimativ in Gewaltanwendung aus. Die Prostituierte träumt sowohl von seinem Heiratsantrag als auch davon, dass sein Sperma in ihr aufsteigt und als Tränen wieder zutage tritt. Madeleines dicke, weiße Tränen sind der traurige Höhepunkt des Films, reich an Symbolik. Die Hure ist stets das Opfer, da sie sich prostituiert, und der Mann bezahlt für das, was er bestellt: Geisha, Gliederpuppe, Sehobjekt usw. Doch manchmal reicht ihm das nicht…

Obwohl die Lage der Sexarbeiterinnen keineswegs zu beneiden ist, haben sie doch noch so etwas wie ein Zuhause. Das ist an den arbeitsfreien Tagen zu sehen: Es gibt ein gemeinschaftliches Mittagsessen, dann einen Ausflug ins Grüne, wo man sich entspannen, träumen und baden kann. Alle helfen einander aus, mit Parfum, Seife usw., denn Reinlichkeit ist oberstes Gebot – nicht nur seitens Madame, sondern auch seitens der Stadtverwaltung, die alle Huren erst durchcheckt, bevor sie eine Lizenz bekommen. 

Diachronie

Wie anders ist das Leben der Huren hundert Jahre danach. Wir sehen die Schauspieler, die die Clotilde spielte, bei ihrer Arbeit auf dem Pariser Straßenstrich, der Périphérique (Ringautobahn). Sie sieht genauso voller ennui aus wie ihre „Schwester“ im Geiste davor, doch sie ist heimat- und schutzlos. Die Kontakte zu den Freiern sind eine Sache von Minuten, es gibt keine gemeinsamen Abende im Wartezimmer mehr. Und das Pfeifchen Opium ist wahrscheinlich längst von der Spritze Heroin oder gar Crystal Meth abgelöst. 

Historisch

So sachlich also die Schilderung der Arbeit der Frauen im L’Apollonide ist, so poetisch und sympathisierend ist sie zugleich. „Huren sind geistig minderbemittelte Verbrecherinnen“, hetzt die Propagandaschrift einer angeblichen Medizinerin, und Samira bricht zu Recht in Tränen aus. Was für eine schändliche Verleumdung! Der Chauvinismus und Rassismus des 20. Jahrhundert, das sich ach so wissenschaftlich gibt, meint es wahrlich nicht gut mit den Frauen. Der Film beginnt fast mit dem Satz: „Die schönste Frau des 19. Jahrhunderts ist gestorben“, und wir dürfen wetten, dass sie kein Unschuldsengel war. 

Zerbrochen

Es liegt eine permanente Zerbrechlichkeit und Bedrohung über dem vermeintlichen Idyll des Apollonide. Das Symbol dafür ist nicht etwa Clotildes Opiumpfeife, sondern das Pantherweibchen Vuitton (sic!). Zu Anfang. Im November 1899, ist es noch jung und mag harmlos erscheinen, doch am 14. Juli 1900, dem Nationalfeiertag, ist der Panther ausgewachsen und knurrt erregt. Während draußen die Böller knallen, findet es sich auf einmal in den gleichen Raum gesperrt wie der Messerheld Francois…

Der Titel

Der Originaltitel lautet „L´Apollonide (Souvenirs de la maison close)“, also Erinnerungen an ein Bordell. Der englische Titel lautet „House of Tolerance“, doch nur der deutsche Titel rückt das Treiben im Apollonide in den Bereich des Sündhaften. Als ob Sünde so etwas Attraktives und Sensationelles wäre. Doch zuletzt habe ich einen Titel wie „Haus der Sünde“ in den siebziger Jahren in Bahnhofskinos gesehen – und die sind ebenfalls allesamt verschwunden. 

Musik

Die Musik bildet einen interessanten Assoziationsrahmen. „Plaisir d’amour“ ist ein wehmütiges Volkslied, das jeder kennt. Auch Hector Pellerins „La Muguette“, Mozart und Puccinis „la Bohème“ dürften bestens passen. Merkwürdig unpassend wirkt hingegen die Popsinfonie „Nights in White Satin“ von den Moody Blues, die in ihrer träumerischen Wehmütigkeit nicht mit der sonst sachlichen Darstellung übereinstimmt. 

Noch erheblich verstörender sind zwei uralte Soul-Nummern, die den Vor- und den Abspann bezeichnen. „The Mighty Hannibal“ fordert laut „The right to love you“ ein, und Lee Moses besingt das „Bad Girl“, das gefallene Mädchen. Diese disparaten Teile stehen einer sympathisierenden einheitlichen Beurteilung des Films durch den Zuschauer entgegen.

Sie rücken den Film in den Bereich der Kunst, und tatsächlich sich dort der Regisseur beheimatet. Postmoderne Theoretiker wie Jacques Derrida und andere sind seine Stichwortgeber. Deshalb wird Madeleines Traumsequenz mehrfach wiederholt, bis sich der Zuschauer fragt, was denn jetzt real und was Traum ist. Das ist der Witz der Sache: die Aufhebung dieses Unterschieds, so dass außen und innen eines sind. Wenn sie könnte, würde Madeleine wirklich Tränen aus Sperma weinen. 

Die DVD

Technische Infos

  • Bildformate: 1,78:1 (anamorph)
  • Tonformate: D in DD 5.1, Französisch in DD 25.1
  • Sprachen: D, Französisch
  • Untertitel: D (nicht ausblendbar)
  • Extras
    • Trailer
    • Behind the Scenes 
    • Schauspielproben 
    • Programmvorschau

Mein Eindruck: die DVD

Obwohl die Lichtverhältnisse in den kleinen Räumlichkeiten des Bordells (= Studio) sicherlich suboptimal waren, gelang es der Regie etc., doch eine annehmbare Ausleuchtung der Szenen zu erreichen. Natürlich mussten sich die Schauspieler entsprechend von Lichtquelle zu Lichtquelle bewegen, wie das „Behind the scenes“ verdeutlicht. Ähnliches gilt für den Ton, der durchaus verfremdet wirken kann. Die Messerszene ist mit einem tiefen grummeln unterlegt, das sie umso bedrohlicher wirken lässt. 

EXTRAS:

  1. Trailer (1:30 min): Mehr ein Kuriositätenkabinett als die Skizze einer Handlung, ganz auf weibliche Erotik abgestellt. 
  2. Behind the Scenes (25:05 min., OmU): L’Apollonide hieß das Haus seiner Eltern, erzählt der Regisseur Bertrand Bonello, und es war ebenfalls im Stil des fin de siècle eingerichtet. Seit 2004 schrieb er am Drehbuch, so dass es zahlreiche Versionen davon gibt. Er kennt sich mit deutschen Regisseuren wie Fassbinder aus, und tatsächlich erinnert die Sachlichkeit, mit der Prostituierten dargestellt werden, an „Berlin Alexanderplatz“, „Lola“ und andere Chroniken Fassbinders. 

    Für die Messer-Szene, die vielfach wiederholt wird, gibt es ebenfalls Vorbilder, so etwa „Tiresia“ (die Geblendete) und „Le pornographe“. Bonello zeigt die Wirkung von Schnitt, Tempo, Sound, Raum, Interaktion und Wiederholung. Daran dürften nur ausgebuffte Filmkenner ihre Freude haben. 
  3. Schauspielproben (16:08 min.): Vier der auftretenden Schauspielerinnen sind zu sehen, erst in einer gegenwärtigen Studio- oder Wohnungs-Umgebung, dann später mit der gleichen Szene im fertigen Film:
    1. die Puppe
    2. die Dame, die immer lächelt (Madeleine)
    3. die Fremdenführerin und Einweiserin
    4. die Geisha (Pauline, die Neue)
  4. Programmvorschau
    1. Alles wird gut
    2. Babycall
    3. Bessere Zeiten
    4. Die Einsamkeit der Primzahlen
    5. Headhunters
    6. Familientreffen mit Hindernissen (von J. Delpy) 

Unterm Strich

Nochmals sei der Hinweis gemacht, dass es sich hier weder um einen Porno noch einen erotischen Film handelt. Sicher, wir bekommen jede Menge entblößte Frauenkörper zu sehen und daran mag sich aufgeilen, wer kann. Ich fand diese Darstellung eher naturalistisch, an R.W. Fassbinders Chroniken wie „Berlin Alexanderplatz“ und „Lola“ angelehnt. Das Bordell bildet einen geschützten Raum – kein Idyll – für die Sexarbeiterinnen, und alle Freier wissen sich charmant zu benehmen. 

Mit einer Ausnahme: der Schlitzer ist am Werk. Im ersten Viertel des Films schockt eine schreiende, blutüberströmte Madeleine den Zuschauer, der sich auf voyeuristische Reize eingestellt hat, aus seiner Reverie. Immer wieder kehrt die Erzählung gemäß Derridas Prinzip ewiger Wiederholung zu dieser Messerszene und ihrem Vorspiel zurück und unterbindet auf beklemmende Weise jeden Versuch, die Frauen als zur Schau gestellte Objekte wahrzunehmen. Nein, sie sind Subjekte, mit einem eigenen Schicksal, und dieses Schicksal meint es nicht gut mit ihnen. 

Dies ist filmische Kunst im besten Sinne, und der Regisseur schafft es, das Bordell als Lebenswelt mit einem Ablaufdatum begreiflich zu machen. Dieses ist mit dem 14. Juli 1900erreicht, als die rote Laterne ein letztes Mal ausgeschaltet wird – und die Rache der Bewohnerinnen ihre Erfüllung findet. Das 20. Jahrhundert ist endgültig angebrochen. 

Es ist nicht einfach, sich alle zwölf Namen der Damen zu merken, aber nach einer Weile vermag der Zuschauer jedem Gesicht einen Namen zuzuordnen. Ich habe mir die Liste erspart, um nicht wie ein Buchhalter zu erscheinen, und ab einem gewissen Punkt ist es auch nicht von Bedeutung, welche Frau welchen Namen trägt. Sie sind eine Art Team, das nur wenig Wechsel (z.B. Pauline) kennt. Wer will, kann immer wieder zu ihnen zurückkehren, um sie besser kennenzulernen. Wer das tut, muss auch Madeleines trauriges Schicksal in Kauf nehmen: die „Frau, die immer lächelt“ ist Teil einer Freakshow der Oberen Zehntausend geworden. 

„Haus der Sünde“ – ein völlig unpassender, antiquierter Titel (s.o.) entlarvt Filmchen über romantische Huren à la „Pretty Woman“ oder „Irma la douce“ als die Hollywoodmärchen, die sie sind. Vielmehr ist der Film der Versuch, die Natur einer Epoche einzufangen. Der Abschied vom 19. Jahrhundert ist, trotz aller Schattenseiten, wehmütig, die Morgenröte des 20. Jahrhundert hingegen voller Schrecken. Mit seiner spröden, kunstvollen Machart gelingt es dem Film, dieses Ziel zu erreichen. 

Die DVD

Die Silberscheibe bietet wenig Material, das sich als hilfreich erweist. Man muss schon ein Filmkenner oder selbst ein Filmschaffender sein, um die französischen Ausführungen des Regisseurs würdigen zu können. Aber es ist wenigstens klar, was er wollte: eine Chronik à la Fassbinder, aber mit französischem Charme und postmodernem Aufbau. Der Rest ist Werbung in Form von Trailern. 

Wertung

Mima2016: 4 out of 5 stars (4 / 5)

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