Einleitung:

Berlin und seine Party- und Feierszene: Viele Milieus mit schrägen Leuten, immense Stil- und Musikrichtungen und etliche extravagante und unkonventionelle Clubs gibt es dort (u.a.) zu bestaunen und zu erkunden. Für junge und erlebnishungrige Leute ist die hippe Metropole im Prinzip ein Muss und hat in vielerlei Hinsicht viel zu bieten: z.B. den freizügigen Sex-und-Disco-Kitkatclub oder das momentan sehr angesagte Berghain, der Maria-Club am Ostbahnhof oder der Salon zur wilden Renate, um nur einige der guten Locations (vor allem aus der Elektro- und Technoszene) zu benennen. Nun wurde in Deutschland endlich ein sehr sehenswerter Film gedreht, der diese Partyszene in adäquater Form einfängt, darstellt, ihr huldigt und der nebenbei eine interessante Story mit halbwegs authentischen Darstellern zu erzählen hat…

Inhalt:

DJ Ickarus (Grandios: Paul Kalkbrenner – seines Zeichens selber angesagter und prominenter DJ) will ein neues Album auf den Markt bringen. Nebenbei führt er quasi ein halbes „Jet-Set-Leben“ und tourt mit seiner Freundin und Managerin Mathilde (Rita Lengyel) um den Erdball, um aufzulegen und die Massen zum steppen zu bringen. Leider hat Paul dabei ein paar falsche Freunde (gespielt von Rolf Peter Kahl als „Erbse“ & Henriette Müller als Jenny): Nachdem er von einem dieser Freunde eine Drogen-Mix-Pille bekommen und eingenommen hat, landet er in der Psychiatrie. Dort also angekommen sieht zunächst alles gut für ihn aus und seine Genesung geht schnell: Doch dann wird Paul drogenmäßig rückfällig und driftet in einen Problemstrudel rein, aus dem er droht nicht wieder heil rauszukommen…

Kritik:

In gewisser Weise spielt Paul Kalkbrenner sich in „Berlin Calling“ selbst und genau dieses Faktum kommt seiner Performance außerordentlich zu Gute. An seinem freakigen Auftritt ist kaum etwas zu bemängeln. Er passt perfekt in die Rolle des Ickarus: Dabei offenbart er eine facettenreiche schauspielerische Subtilität, wie man sie von einem Laiendarsteller normalerweise nicht erwartet hätte: Einerseits bringt er brillant die fröhlichen und lebenslustigen Momente des Ickarus zum Ausdruck, dann spielt er mit Intensität den Drogen-Ickarus, der in seinen Räuschen aufgeht und schlussendlich stellt er den immer mehr verfallenden Ickarus dar, der durch die Psychopharmaka-Tabletten sehr bleich und schwächlich daher kommt…was seine Performance dabei noch authentischer macht ist, das er Berlinerisch spricht und das Handwerk des DJ-Auflegens perfekt beherrscht. Man hat schon den Eindruck, das das was er im Film alles erlebt und durchmacht auch selbst von ihm in ähnlicher Art und Weise durchgemacht wurde. Durch das authentische Schauspiel kann sich der Zuschauer dann auch besser in die Rolle und in den Menschen Ickarus hineinversetzen und mitfühlen.

Dabei gibt es immer wieder tragische Szenen im Film, die aber oftmals auch ins Lustige und Komische gedreht und gewendet werden: Was wären wir nur ohne unseren Humor? Ob nun bei der Szene, wo Ickarus früh morgens halbnackt im Restaurant sitzt und im Drogenrausch Frühstück mampft oder bei etlichen Szenen in der Psychiatrie (die im Übrigen schon Parallelen zu „Einer flog übers Kuckucksnest“ aufweisen): Zu schmunzeln gibt es einiges im Film. Dabei changiert die Handlung immer wieder zwischen tragischen und komischen Elementen, was eine gute und abwechslungsreiche Mischung ergibt. Nebenher wird an verschiedenen Schauplätzen die Techno- und Partyszene Berlins sowie auch Berlin selbst romantisiert und ästhetisiert. Wir dürfen Paul zuschauen, wie er neue Töne und Klänge für sein neues Album in der U-Bahn & in der U-Bahn-Station einfängt (ein gern gesehener und oft gezeigter Ort im Film) oder wie Paul im Sonnenuntergang stehend mit Kopfhörern und Technomusik nebenher laufend über Berlin schaut. Für jeden echten Technofan sind genau das die Szenen, die er selbst kennt und nachvollziehen kann. Aber auch die Drogenerfahrenen kommen natürlich auf ihre Kosten: Mehrmals im Film werden Szenen gezeigt, in denen Ickarus z.B. Halluzinationen hat oder durch eine U-Bahn-Station im Drogenrausch taumelt und dabei dieses besondere Lebensgefühl des Draufseins (Druffie-Seins) blendend charakterisiert und wiedergibt. Das lässt die Herzen der Techno- und Elektrofans höher schlagen…

Doch nicht nur filmisch wird hier einiges in Richtung Elektro geboten: Vor allem die Filmmusik haut deftig rein und beschert dem Filmfreund gleichzeitig auch noch ein extravagantes musikalisches Erlebnis (wer will, der kann alle Tracks kostenfrei bei youtube anhören). Paul Kalkbrenner selbst hat alle vorkommenden Tracks komponiert und diese fügen sich an den meisten Stellen in Perfektion zur Bildkomposition ein. Kalkbrenner ist momentan sehr in, was aber nicht nur an „Berlin Calling“ liegt, sondern eben vor allem auch an seinem minimalistischen Stil, der viele Facetten offenbart: Es gibt Düsteres und Finsteres (auch die Psychiaterin Professorin Paul – im Film gespielt von Corinna Harfouch– bemerkt in einer Szene diese „depressive oder auch melancholische Düsternis“ in Kalkbrenners Musik; Beispieltrack vom Album: Absynthe, Torted), Schnelles & Bedrohliches (Beispieltrack vom Album: Revolte, Queer Fellow), Freudvolles, Mystisches, Romantisches und Himmelhochjauchzendes (Beispieltrack: Gebrunn Gebrunn, Sky and Sand, Altes Kamuffel), eine Mischung von Düsterem und Freudvollem (Beispieltrack: Square 1, Azure, Moob), oder einfach Ultrachilliges (Beispieltrack: Aaron). Ohne den großartigen Soundtrack (der auch optimal eingefügt wurde) wäre „Berlin Calling“ allemal nur halb so gut.

Was etwas bitter aufstößt ist die Psychiatrie- und Psychologiekritik im Film: Denn nicht jeder Psychologe oder Psychiater ist so wie die beiden „Hexen“ aus Ken Keseys „Einer flog übers Kuckucksnest“ oder eben wie Corinna Harfouch in „Berlin Calling“. Die Idee die hinter der Kritik hier steht ist allerdings hochwertig, denn offenbar versucht Professorin Petra Paul tatsächlich Ickarus für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, was nicht der Psychologie-Ethik entspricht. Das Sie obendrein einen kontroll- und herrschsüchtigen Charakter besitzt ist nicht so abwegig. Diese Charaktereigenschaften lassen sich bestimmt bei vielen Psychologen und Psychiatern finden, was ja in der Regel auch den Klienten und Patienten zu Gute kommt, denn oftmals fehlt diesen genau das was die Psychiater/Psychologen zu haben scheinen: Struktur im Alltag, Ruhe bewahren in bestimmten Situationen, spezifisches Wissen zur Problemlösung etcetera. Oft sollen genau diese Dinge psychisch Kranken vermittelt werden, um einen Heilungsprozess in Gang zu bringen. Was selbstverständlich nicht fehlen darf ist ein adäquates Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zu Verständnis, Zuwendung, Zuneigung, Anerkennung und Respektierung anderer (wobei man auch die Fähigkeit zur Distanzierung haben muss). Leider scheinen bei einigen Spezies der Psychologenriege diese Eigenschaften und (Handlungs)Kompetenzen beim Umgang mit den problematischen Klienten zu fehlen…diese Kritik ist also tatsächlich berechtigt, denn auch Professorin Petra Paul wirkt eher sozial kalt und emotional unterkühlt, was nicht sehr förderlich im Umgang mit ihren Patienten zu sein scheint. Dafür sind andere Mitarbeiter der Psychiatrie in der Umgebung umso netter: Offensichtlich brauchen Führungspersönlichkeiten gewisse Kompetenzen, die Härte, Lüge, Skrupellosigkeit und andere negative Eigenschaften aufweisen, um den Laden auf Dauer in Schuss zu halten und schmeißen zu können. Aber das ist eine Frage, die besser an anderen Stellen geklärt werden sollte. Jedenfalls nervt es etwas, das schon wieder die Psychologen-Stereotype in einem Film verwendet werden, ohne diese mal kritisch zu hinterfragen: So als ob alle Psychiater und Psychologen per se nur Böses tun wollen und böse Menschen sind, die andere gefährden und sie an etwas hindern, an statt mit zu helfen deren Probleme zu lösen. Schaut man sich die Filmlandschaft an, dann kann man leicht diesen Eindruck bekommen: Immer wieder finden sich die Stereotype des bösen Psychologen, der andere manipuliert und selbst geistig krank ist. Hoffentlich wandelt sich dieses Bild in der Gesellschaft im Laufe des nächsten Jahrhunderts endlich gründlich, denn langsam beginnt es wirklich tierisch zu nerven…ansonsten stimmt die Psychologie der Charaktere des Films teilweise: im Grunde wird ja auch nur tiefergehend auf Ickarus Psyche eingegangen und was sich da so offenbart, hat grundsoliden (allerdings auch mehr oder minder psychologisch-stereotypen) Charakter, weshalb Ickarus so ist wie er ist. Trotzdem geht das in Ordnung, denn der Film erhebt keinerlei Anspruch, ein umfassendes DJ-Psychogramm zu skizzieren – das Gezeigte reicht hier vollkommen aus und erfüllt wunderbar das wahrhaftig stimmende Credo: Weniger ist manchmal mehr.

Die Nebendarsteller machen ihre Sache solide und fallen positiv auf, ebenso sind die Dialoge ganz passabel konstruiert (wenn auch nicht überragend, so doch für die Zwecke des Films ausreichend). Gut ist auch, dass der Gebrauch von Drogen und dessen Konsum nicht verteufelt werden, sondern das realistisch dargestellt wird was passieren kann, wenn man das falsche Zeug (einen „Drogencocktail“) schluckt. Drogen einzunehmen und diese auch zu vertragen, das scheint doch eine Sache des Persönlichkeitstypus zu sein. Die einen vertragen alles Mögliche, sind hartgesotten, schütten alles in sich rein (Alk, Pillen, Kippen, Joints etc.) und kriegen trotzdem noch ihr Leben auf die Reihe, ohne gravierend abzustürzen, die anderen bleiben auf Drogen hängen und kacken ab, bis sie merken das sie endlich etwas ändern müssen (und dann sind sie von sich selbst und ihrer Drogenzeit enttäuscht), die nächsten konsumieren ab und zu mal und halten sich ihre Rauscherfahrungen balancemäßig in Ehren, wieder andere gehen daran völlig zu Grunde, einige zehren von den außeralltäglichen Erfahrungen, welche werden davon beflügelt und kreativ, die nächsten wollen „alles mal gemacht“ haben und wieder welche landen in der Psychiatrie und kommen gar nicht mehr klar mit dem Leben. Allen ist gemeinsam das sie große Risiken bei der Einnahme von Drogen eingehen. Paul Kalkbrenner alias DJ Ickarus ist eher der Typus „sensibler Künstler“, der nicht alles verträgt und deshalb in der Psychiatrie landet: Hier wird perfekt die schmale Gradwanderung der Technoszene präsentiert: Einerseits gediegen abfeiern bis zum „get no“ und in der Musik und deren Rythmen schwingen und abtauchen, andererseits dies mit Hilfe von gefährlichen Drogen tun – die langfristig negative Konsequenzen mit sich bringen werden. Die Technoszene birgt Risiken und Gefahren, aber eben auch eine unglaublich verbindende Feier(sub)kultur, tolle Ästhetiken, Bilder, Töne, Klänge, Melodien, Rythmen und Erlebnisse, die außeralltäglich und außerordentlich sind…Beiden Tatsachen wurde mit „Berlin Calling“ ein Denkmal gesetzt.

Fazit:

„Berlin Calling“ ist ein starker Film, der eine konstruierte Handlung rund um das innerpsychische und außerpsychische, aber innerweltliche Individuum „DJ Ickarus“ bietet, die mit starken Nebenfiguren (deren Probleme auch geschildert werden), mehreren authentischen Settings aus der Techno- und Partyszene, einem atemberaubenden und angesagten Score und bester Unterhaltung daher kommt und der somit zweifelsohne zu den besten deutschen (Independent)Filmen des Jahres 2008 gezählt werden kann. Auch Nicht-Elektro-Fans kommen hier durchaus auf ihre Kosten und können schüchterne und nüchterne Blicke riskieren. Vielleicht wandelt sich ja sogar ihre (eventuell negative) Sichtweise auf die Techno- und Partyszene Berlins – denn diese ist zweifelsohne mit allem Pomp zu würdigen (auch wenn es viel Scheiße dort zu bestaunen gibt – oder grade deshalb? Denn genau das macht doch den Reiz aus! Oder?). Regisseur Hannes Stöhr (der auch ein Berlinfan zu sein scheint) wollte einen Film über Genie und Wahnsinn und „the thin red line between“ der beiden machen, was ihm durchaus gelungen ist (auch wenn man zunächst nicht daran denken würde, wenn man den Film unvoreingenommen ohne diese Information zum ersten Mal sieht), auch wenn der Protagonist weder als Genie, noch als Wahnsinniger oder Verrückter beschrieben werden kann … so kann man trotzdem dieses Leitthema in den Film rein interpretieren. Alles in allem sehr sehenswert vor allem für Berlin- und Elektro-Musik-Fans, aber auch für alle anderen, die gern mal neugierig neue Einblicke in fremde Milieus erhalten und werfen. Dieser Film eignet sich ideal dazu und bietet kurzweiliges Vergnügen auf ganzer Linie…auch/und wenn er nicht ganz das Nonplusultra ist, so ist er doch weit über dem Durchschnitt und bewegt sich zwischen einem guten Film und einem Glanzstück/Meisterwerk glänzend…

[Wertung]

Huckabee: 4 out of 5 stars (4 / 5)

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