„You are a weight on me!“ –

„Der letzte Tango in Paris“ von Bernardo Bertolucci, „Eyes Wide Shut“ von Stanley Kubrick und „Repulsion“ von Roman Polanski: Filme, die sich in der Vergangenheit mit zeitlosen, allzu menschlichen Themen wie der „sexuellen Obsession“, den daraus, zumeist auch zwischen Wahn- und Wirklichkeit resultierenden Fieberträumen und den späteren, dazugehörigen Katastrophen in den mehr oder weniger variabel gestalteten Makrokosmen beschäftigten. Und auch Regisseur Steve McQueens aktueller Kinobeitrag „Shame“ reiht sich in die illustre Riege genannter Genrebeiträge ein und entpuppt sich mittels seines artifiziell-intellektuellen, künstlerischen Blickes als einer der wohl feinsten, aber auch unangenehmsten bis schockierendsten Filme der letzten 20 Jahre. Ahnlich wie Darren Aronofsky in „Requiem for a dream“ porträtiert Regisseur Steve McQueen mehrere seelisch labile Individuen und folgt diesen bei ihren „Süchten“, bei ihren Krankheiten, dessen Anamnesen er genau skizziert. In diesem Falle aufgrund beruflicher und vor allem zwischenmenschlich mangelnder Anerkennung.

„I wanna wake up in a city that doesn’t sleep…“ –

Regisseur Steve McQueen geht es weniger darum, aufgrund der am Borderline-Syndrom und auch an autistischen Symptomen leidenden Protagonisten konkrete Ursachenforschung in Punkto abnormalen gesellschaftlichen Verhaltens für den Kinobetrachter zu betreiben. Nein, ihm geht es schon wie einst Darren Aronofsky in „Requiem for a dream“ darum „zu zeigen“, wohin einen die fraktale, manchmal auch unfreiwillige Isolisierung in der Gesellschaft bringen kann, sollten Menschen an einer Persönlichkeitsstörung bzw. einem fatalem Krankheitsbild wie an sexuellen Süchten“ bzw. Überorientierungen, als Ausdrucks des Mangels an „Liebe“ beispielsweise, leiden. In „Requiem for a dream“ beispielsweise hatten sich verschiedene Süchte der Protagonisten bereits etabliert und erschienen durch tägliche Routinemaßnahmen wie das Setzen eines Drogen-„Schusses“ in oberflächlicher Hinsicht als befriedigt; In „Shame“ hingegen wird das tägliche, sexuelle Ritual langsam und allmählich zur reinen maschinell anmutenden Routine, etwa wenn Michael Fassbender in seiner Rolle sexuell mit jemanden verkehrt hat und der morgendliche, nackte Gang zur Toilette ungehemmt vollzogen wird. In Steve McQueens Film hingegen springen einem mit jedem sexuellen Akt, den manischen Wesenszügen des Protagonisten und dessem späterem, roboterhaft anmutendem Akt und auch hin- und wieder dialogarmen Verkehren mit anderen Menschen, dem visuellem Auflösen der Intimsphäre, beispielsweise im Falle von Michael Fassbenders „Outing“ als „Sexsüchtigem“ während der Arbeitszeit durch seinen Vorgesetzten, den nächtlichen Zufalls-Begegnungen während der am Anfang und auch am Ende auftauchenden U-Bahn Fahrt als auch durch den voyeuristischen Hang dazu, die eigene Schwester beim Verkehr mit dem eigenem Vorgesetzten kurzfristig zu belauschen, die folgenden Fragen ins Gesicht: Kennen wir in unserer Gesellschaft überhaupt noch so etwas wie Schamgefühl bzw. intime Grenzen? Wie weit würden wir gehen, um unser persönliches, tägliches Seelenheil zu suchen und andere Menschen dabei zu übersehen, welche wirklich unsere gesamte Aufmerksamkeit benötigen? Verkörpert Michael Fassbender in seiner Rolle etwa nur einen menschlichen Ausnahmefall? Oder erscheint er in seiner Rolle und als Wiederspiegelung einer momentanen Lebenssituation nicht als „der“ gesamte personifizierte, gesellschaftliche Sündenpfuhl? Ist die moderne, gesellschaftliche „Sexsucht“ ausgeprägter, als wir uns auch nur im entferntesten vorstellen können?

„You just fuckin‘ draggin‘ me down!“ –

Müßig ist es auch darüber zu diskutieren, ob sich Regisseur Steve McQueens Film „Shame“ als gewollte „Pornographie“ bzw. kalkulierter „Tabubruch“ outen soll. In intimen, zwischenmenschlich-selbstzerstörerischen Portraits war in der Vergangenheit immer die Rede von derlei Vorwürfen, beispielsweise als sich Marlon Brandon und Maria Schneider in der Vergangenheit vor der Kamera bis zum „Exzess“ liebten bzw. durch ihre aufs Physische limitierten, exaltierten Aktionen dabei eine Welle der Entrüstung los schlug. Aber gerade durch solche exaltierten Darbietungen erfahren spezifische Dramen ihre dringend benötigte Glaubwürdigkeit und bieten ein emotionales Polster. Was Michael Fassbender aktuell in „Shame“ in Punkto schauspielerischer Leistung abliefert, lässt sich ebenso wie vergangene Leistungen großer Schauspieler in thematisch ähnlichen Filmen wie „Shame“ schwer in Worte fassen. Denn aufgrund seiner Darbietung offenbart er sich regelrecht als eine modern interpretierte, sexuelle „Marlon Brando Nat(Ur)Gewalt“, als durchs Nachtleben wandelnder, postmoderner Charmeur, wenn er Nachts in diversen Clubs und Bars der Jagd nach dem nächsten Coitius fröhnt, ebenso als Sid Vicious, wenn er auch gen Ende über die normale Schmerzgrenze hinaus während einer „Menage á trois“ den sexuellen Akt vollzieht.

„Touch that.“ –

In erster Linie gebührt Regisseur Steve McQueen Respekt für die künstlerische Leistung, wirkliches Verständnis für den erkrankten Protagonisten, seine familiäre, ungewollte Begleiterscheinung und dessen verzerrte subjektive Wahrnehmung der Welt um sich herum entstehen zu lassen: Michael Fassbender erweist sich in seiner Rolle als das zentral-dominierende Element von „Shame“, sein Trip durch eine scheinbar(?) komplett erkaltete Welt offenbart sich als reiner Selbstfindungsprozess, den Regisseur Steve McQueen niemals aus den Augen verliert. Sexsucht, Einsamkeit und seelischer Schmerz sind in „Shame“ zwar die omnipräsenten Themen, dennoch werden sie über die komplette Laufzeit nie unnötig glorifiziert, auch wenn dem Betrachter der Protagonist ab und an als eventuell doch charmant und empathiefähig erscheint, etwa wenn sich zwischendurch mal Gelegenheiten zu einer richtigen zwischenmenschlichen Beziehung ergeben. Die Schmerzen, die Michael Fassbender und Carrey Mulligan in ihren Rollen erleiden, erweisen sich als authentisch. Vor allem die präzisen und eiskalten Sexualakte erweisen sich als ein erschreckender Ausdruck von menschlicher Hilflosigkeit im Angesicht der Tatsache, das eigene Leben mittels (sexueller) Gewalt unter Kontrolle halten zu wollen, während man nicht mehr in der Lage dazu ist, es abseits der täglichen Arbeitsroutine noch richtig funktionieren zu lassen und dafür Hinweise von anderen, sogar nahestehenden, anzunehmen. Der gespielte, sexuelle Verkehr Michael Fassbenders erweist sich vor dem finalem, unausweichlichem und dramatischen Climax vor allem als Weigerung, sich seine eigenen Schwächen, Fehler und die eigene Krankheit im nachhinein einzugestehen. Clevererweise wird aber vor allem mit letzter Szenerie (Stichwort „U-Bahn“) in „Shame“ auf eine in schlechteren Genrebeiträgen manchmal moralisch inszenierte Läuterung des Protagonisten zu Gunsten des bereits dann nervlich attackierten Publikums verzichtet.

„Dont try to keep the worst things under control.“ –

Dass sich „Shame“ am Ende dennoch nicht als Meisterwerk entpuppt, ist zum einen der ein oder anderen inszenatorischen Länge geschuldet. Ebenso erreicht Steve McQueen niemals die Härte bzw. Radikalität der Inszenierung eines Darren Aronofsky, der dem Publikum mit „Requiem for a dream“ seinerzeit deutlich mehr zumutete. Ebenso sind die Gründe, warum Carrey Mulligan („Drive“) in ihrer Rolle die Nähe zu Michael Fassbender sucht, zwar durchweg nachvollziehbar und spielen eine entscheidende Rolle im Hinblick auf desseren weitere menschliche Entwicklung. Andersherum erweisen sie sich vielleicht als einen Tick zu mager ausformuliert… Carrey Mulligan verkommt ab und an zu einem emotionalen McGuffin. Mit dem Verzicht auf dieses künstlerische Element und etwas mehr erzählerischer Substanz hätte „Shame“ das Prädikat „Meisterwerk“ verdient.

Fazit: Dennoch offenbart sich das Drama im verhafteten Genre als das bisherige „Highlight“ im Kinojahr 2012, neben „Take Shelter“ wohlgemerkt, als ein US-Beitrag, der aufgrund seiner kompromisslosen Gangart wohl für die eine oder andere hitzige Kontroverse und Debatte sorgen dürfte. Regisseur Steve McQueen ist ein starker und emotional sehr aufwühlender Film gelungen, obwohl er inhaltlich damit kein Neuland betritt. Sehenswert.

[Wertung]

blockbusterandmore: 4 out of 5 stars (4 / 5)

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