Von diesem frühen Verbrechensmelodram Alfred Hitchcocks fertigte der Meister gleich zwei Fassungen an: Nachdem er den Streifen als Stummfilm gedreht, aber noch nicht geschnitten hatte, versah Hitch erneut gedrehte Szenen mit zusätzlichem Ton und sogar Effekten. Es war für das Kino eben eine Zeitenwende: Die Jahre 1927-1929 sahen das Aufkommen des Tonfilms. Für Hitch ergab sich aber ein Problem: Seine Hauptdarstellerin Anny Ondra sprach Englisch mit starkem Akzent – er musste ihre Sätze vor Ort, also beim Drehen selbst, synchronisieren lassen!

Filminfos

  • O-Titel: Blackmail (GB 1929)
  • FSK: ab 6
  • Länge: 82 Min.
  • Regisseur: Alfred Hitchcock
  • Drehbuch: Alfred Hitchcock, Benn W. Levy, Charles Bennett nach 1 Theaterstück von Ch. Bennett
  • Tonfilm-Musik: Campbell Connelly
  • Darsteller: Anny Ondra, Sara Allgood, John Longden, Charles Paton, Donald Calthorp u.a.

Handlung

Im Prolog sehen wir Inspektor Frank Webber (John Longden) von der Londoner Polizei beim Einsatz: Der Einsatzwagen ist sogar schon mit so etwas wie Funk ausgestattet! Es gilt, einen Verbrecher dingfest zu machen. Das klappt auch ganz vorzüglich, und nach erfolgreichem Tagwerk waschen sich die Polizisten ihre Hände buchstäblich in Unschuld.

Frank ist mit seine Freundin Alice (Anny Ondra) verabredet. Man geht ins Café, doch irgendwie ist Alice nicht bei der Sache: man streitet sich, und Frank geht verärgert nach draußen. Er traut seinen Augen kaum, als er Alice wenig später mit einem Lackaffen aus dem Café kommen sieht. Es handelt sich um den Kunstmaler Crew, der Alice überredet, mit in seine Wohnung zu kommen. Dass der Inspektor die beiden nicht verfolgt, ist ein schwerer Fehler. In der U-Bahn würde er nämlich Alfred Hitchcock zu sehen bekommen, der neben ihnen sitzt und von einem Lausebengel getriezt wird.

Mister Crew, der Maler, ist ziemlich scharf auf die süße Alice und versucht, sie zu vergewaltigen. Das gute Mädchen wehrt sich nach Kräften, bekommt ein Brotmesser zu fassen und meuchelt den Übeltäter. Reichlich geschockt von ihrer Bluttat vergisst sie ihre Handschuhe.

Als sie spät am nächsten Tag erwacht, zwitschert ein unsichtbarer Kanarienvogel unentwegt sein Lied: ein deutliches Symbol von Gefahr und drohendem Chaos. Alice ist von Schuldgefühlen erfüllt. Inzwischen hat Frank Webber einen der Handschuhe gefunden und weiß, dass Alice bei Crew war: Alles spricht dafür, dass sie die Täterin ist. Allerdings ermöglicht Frank keine Fingerabdruckanalyse.

Alice ist Verkäuferin im Tabakladen ihrer Eltern. Von diesen und einer Kundin hört sie, dass jemand getötet wurde. Ihre Wahrnehmung erlaubt ihr nur, das Wort „Messer“ zu hören, das ihre Schuldgefühle verstärkt – ein melodramatischer Klangeffekt, den Hitchcock hier einsetzt.

Der Erpresser taucht im Laden auf, ein schmieriger Typ namens Tracy, der viel Ähnlichkeit mit jenem Gauner hat, den Frank in der ersten Szene festgenommen hatte. Tracys Druckmittel: Er hat Alices zweiten Handschuh, und verlangt dafür erst einmal Knete von Frank, der seine Alice deckt. Zunächst gibt Frank Tracys Forderungen nach, doch dann erhält er die Nachricht, dass es sich um einen Ex-Knacki handelt, der gesucht wird. 

Kaum trifft das Polizeiauto ein, springt Tracy aus dem Fenster und macht sich aus dem Staub, wird aber von Frank und Kollegen verfolgt. Die Jagd führt ins Britische Museum, wo Tracy durch das Glasdach des Lesesaals stürzt. 

Frank ist noch nicht zurück, da wird Alice von ihren Schuldgefühlen übermannt: Sie will sich der Polizei stellen. Ob noch alles gut ausgeht?

Die DVD

Technische Infos

  • Bildformate: 1,33:1
  • Tonformate: mono in Doly Digital
  • Tonfilm-Sprachen: Englisch
  • Untertitel: Englisch, Dt., Ital., Portugiesisch
  • Extras:
    • Stummfilmfassung mit Klaviermusik
    • Stimm-Test Take mit Hitch und Anny Ondra
    • Fotogalerie (darunter 1 Bild koloriert, 1 Bild vom Dreh)

Mein Eindruck

Über weite Strecken befolgen die Personenszenen die Vorschriften des Melodrams und der Theaterbühne – der Krimi entstand aus einem Bühnenstück Charles Bennetts und ist deutlich in drei Akte eingeteilt. Am Anfang spielt die Pflicht (des Polizisten) die Hauptrolle, im 2. Akt die Liebe, worauf unweigerlich der Konflikt zwischen Liebe und Pflicht folgt. Auch Symbole wie etwa Vögel, Schattengitter und ein Harlekin-Gemälde spielen eine wichtige deutende Rolle, um Seelenzustände darzustellen.

Doch Hitch war in seiner Kunst schon ein wenig weiter. Der Film eröffnet mit dem Blick der Kamera auf ein sich drehendes Wagenrad: das der Einsatzwagens der Londoner Polizei. Das Motiv wird gegen Schluss wiederholt.  Weitere visuelle Mittel wie eine Trickaufnahme im British Museum (Pharaonenmaske) und das Leitmotiv der toten Hand durchziehen den Film. Alices Obsession mit dem Wort „Messer“ wird durch einen Klangeffekt hervorgehoben. Ihr Schrei überschneidet sich mit dem der Concierge, die Crews Leiche findet.

Dass Frank und Alice nicht aus dem „Paradies“ der bürgerlichen Existenz vertrieben werden, weil sie den der Konflikt zwischen Liebe und Pflicht nicht auflösen, ist ebenfalls innovativ: Wie schon Joseph Conrads und Graham Greenes Agenten und Diplomaten entscheiden sie sich dafür, ihre Schuld zu verheimlichen und fortan in einem Zustand der inneren Verzweiflung zu leben, die sich äußerlich als Korruptheit des Polizisten zeigt. Moralische, absolut gesetzte Werte werden ebenso hartnäckig hinterfragt wie menschliche Autoritäten. 

„Blackmail“ fehlt es nicht an Witz: In der U-Bahn sieht man Hitch den getriezten Spießbürger, dem von einem Jungen der Hut vom Kopf gestoßen wird. Die Londoner Alltagswelt ist sehr gut erfasst. Der Tabakladen ist stilecht eingerichtet, und das Gebaren des Erpressers, der sich eine superteure Zigarre geben und von Frank bezahlen lässt, ist voll höhnischer Ironie.

Die DVD

Auch der Sprachtest für Anny Ondra ist sehr witzig: Hitch fragt seine Hauptdarstellerin in einer halb gespielten Szene, ob sie sich mit Männern trifft, wobei er unterstellt, sie sei ein Flittchen. Er geht noch weiter, die arme Anny zu quälen, indem er den höchst zweideutigen Spruch eines Mädchens zitiert, das mit seinem Soldatenfreund spricht. Die Schlüpfrigkeit erschließt sich nur dem Zuschauer mit guten Englischkenntnissen.

Die Stummfilmfassung ist relativ interessant: Sie ist – neben den Zwischentiteln – mit neuer Klaviermusik versehen. Die Fotogalerie hält eine Überraschung bereit: ein koloriertes Foto, das die U-Bahn-Szene mit Hitch zeigt. Zu sehen sind einige Filmszenen sowie eine vom Dreh, die Hitch zeigt.

Leider ist die Qualität von Ton und Bild weit davon entfernt, optimal zu sein: Rauschen, Artefakte, sogar ein Jumpcut (ein Sprung mitten in der Szene) stören ein wenig.

Unterm Strich

„Blackmail“ bietet dem Filmkenner Einblick in die Kunst des frühen Hitchcock, jenen von „The Lodger“ und „The Manxman“. Dabei ist der Plot bereits dramaturgisch recht effektiv, Grundaussagen Hitchs zur Doppelmoral der Bürger sind nicht zu übersehen, und ein paar Filmtricks haben schon Eingang in die Endfassung des Tonschnitts gefunden. 

Die DVD bietet nicht nur die Stummfilmfassung, sondern auch einen recht doppelbödigen Hitch, der seine Hauptdarstellerin quält.

Mima2016; 4 out of 5 stars (4 / 5)

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