Hitchcocks 53. Film, für den Ernst Lehmann („Der unsichtbare Dritte“) das Drehbuch schrieb, war auch sein letzter. 

Eine alte Dame sucht ihren verschollenen Neffen, den ihre Schwester als Baby zur Adoption freigegeben hat und will ihm ihr gesamtes Vermögen vermachen. Ihre beiden Helfer bei dieser Suche – Blanche, eine Hellseherin und deren Freund Georg – machen sich an die schwierige Aufgabe. Überrascht müssen die beiden feststellen, dass der Gesuchte so gar nicht dem Bild eines „armen Erben“ entspricht. Das Letzte aber, was der Gesuchte brauchen kann, ist, von einer sentimentalen alten Tante gefunden zu werden. Eine spannende Jagd à la Hitchcock, gespickt mit vielen Raffinessen und Überraschungsmomenten, beginnt. (Verleihinfo)

Filminfos

  • O-Titel: Family Plot (USA 1976)
  • Dt. Vertrieb: Universal
  • VÖ: 16.05.2013
  • EAN: 5050582941371
  • FSK: ab 12
  • Länge: ca. 120 Min.
  • Regisseur: Alfred Hitchcock und Howard Kazanjian
  • Drehbuch: Ernest Lehman („Der unsichtbare Dritte“) nach dem Buch „The Rainbird Pattern“ von Victor Canning
  • Musik: John Williams (!)
  • Darsteller: Bruce Dern (George Lumley), Barbara Harris (Blanche Tyler), Karen Black (Frances), William Devane (Eddie Shoebridge alias Arthur Adamson), Ed Lauter (Joseph Mahoney) u.a.

Handlung

Blanche Tyler (Harris) und George Lumley (Dern) sind arbeitslose Schauspieler im Hinterland von Hollywood. Damit sie was zu beißen haben, verdingt sich George als Taxifahrer und Blanche spielt eine Spiritistin, die angeblich über hellseherische Fähigkeiten verfügt. Als sie die 78 jahre alte Julia Rainbird mit dem geist ihres Mannes Henry und ihrer verstorbenen Schwester Harriet in Verbindung bringt, geschieht etwas Unerwartetes: Mrs Rainbird bekommt schwere Gewissensbisse, weil sie einst Harriet zwang, ihren unehelichen Sohn zur Adoption freizugeben. 

Diesen will sie nun als einzigen Erben ihres Vermögens beglücken, um dadurch ihr Unrecht wiedergutzumachen. Blanche verspricht sie 10.000 Dollar, sollte es ihr gelingen, diesen unbekannten Neffen ausfindig zu machen. Der Haken dabei, den George natürlich sofort entdeckt: Sie haben keinen Namen, keinen Wohnort und keinen Kontakt. Einziger Hinweis: Der Chauffeur Harriets hieß Shoebridge.

Deshalb verkleidet sich George und besucht den Friedhof von Barlow Creek: Hier liegen seit 1950 drei Shoebridges begraben, doch der Grabstein von Edward Shoebridge ist wesentlich jünger. Warum? Der Steinmetz weiß es: Der Grabstein stammt aus dem Jahr 1965 und wurde von einem gewissen Joseph Maloney bezahlt, nachdem dieser versucht hatte, Eddie Shoebridge für tot erklären zu lassen. 

Joseph Maloney ist Tankwart an einer Fernstraße und Inhaber einer Autowerkstatt. George gibt sich als Anwalt aus, der Eddie Shoebridge sucht. Und die Fragen, die er kundig stellt, beunruhigen Maloney derart, dass er sich auf den Weg macht, um den angeblich toten Eddie Shoebridge zu besuchen und ihn zu warnen. Denn die beiden haben zusammen Eddies Eltern auf dem Gewissen und bilden seitdem eine lukrative Nutzgemeinschaft. 

Allerdings kann Eddie, der sich nun als den respektablen Juwelier Arthur Adamson ausgibt, einen Schnüffler an seinen Fersen überhaupt nicht gebrauchen. Er hat nämlich gerade ein Kidnapping samt Erpressung laufen, um Diamanten zu bekommen. Also gibt er Maloney den Auftrag, die beiden ahnungslosen Vögel namens Blanche Tyler und George Lumley aus dem Weg zu räumen. 

Wenig später erweist sich Blanches und Georges Auto als Todesfalle, die mit irrer Geschwindigkeit ungebremst eine Bergstraße hinunterrast…

Mein Eindruck

Doch die beiden Unglücksraben Blanche und George haben mehr Glück als Verstand und kommen Arthur Adamson und dessen Komplizin Frances erneut in die Quere. Dabei erweist sich Blanche möglicherweise wirklich als Medium. Ergänzt wird ihre Fähigkeit, das hübsche Näschen in alle möglichen Klemmen zu bringen, von Georges Fähigkeit, hartnäckig eine Spur zu verfolgen und logisch zu denken. 

Und das alles nur, um einem Erben eine gute Nachricht zu überbringen? Nein, die Belohnung, über die die beiden stolpern, gibt es natürlich für die Ergreifung der beiden Kidnapper und für die Wiederbeschaffung der von ihnen erpressten Diamanten. Die Ironie und der brillante Humor, die Hitchcocks Kombination aus Thriller und Komödie auszeichnen, machen den Film zu einem seiner unterhaltsamsten. Und die anzüglichen Dialoge, die die beiden Schauspieler führen, fügen im Originalton einige erotische Würze hinzu. 

Leider bleibt die Action ziemlich auf der Strecke. Sie kommt nur in der Mitte und am Schluss vor. Die beinahe tödliche endende Bergfahrt wurde komplett im Studio gedreht und mit Außenaufnahmen so geschickt kombiniert, dass der Eindruck einer halsbrecherischen Talfahrt ohne Bremsen entstand. Dass Blanche dabei durch ängstliche Verrenkungen die Sicht nimmt und den Atem abschnürt, gehört mit zur komödiantischen Dramaturgie Hitchcocks: Schrecken ist stets mit Komik verbunden. Dieses Rezept funktioniert bei ihm viele Male, so etwa in „Frenzy“. 

Die Blu-ray

Technische Infos

  • Bildformate: 1,85:1 (anamorph)
  • Tonformate: DTS 2.0
  • Sprachen: D, Englisch und viele andere
  • Untertitel: D und viele andere
  • Extras:
    • Doku „Plotting Family Plot“ (48:20 min)
    • Storyboards (9:40 min)
    • Produktionsfotos (14:30 min)
    • 2 Kinotrailer (3:16 min)

Mein Eindruck: die Blu-ray

Das Bild ist für die Blu-ray ausgezeichnet restauriert worden. Aber man sollte lieber nicht zu genau hinschauen, denn dann wird es schneller körnig. Der Ton XXX

EXTRAS

  1. Doku „Plotting Family Plot“ (48:20 min): Der Meister himself begrüßt den Zuschauer und erzählt mit feinem britischen Humor die Handlung seines Films (90 s lang). Allerdings fehlt das von ihm versprochene „Verbrechen aus Leidenschaft“. Dann beginnen die Hintergrundinformationen. Die Buchvorlage von Victor Canning verlief völlig anders und sah den Tod von Blanche Tyler vor. Drehbuchautor Ernest Lehman, der schon „Der unsichtbare Dritte“ verfasste, richtete die Handlung ganz anders aus, mit einem Happy-End. Auch der O-Titel „Deceit“ wurde geändert in das zweideutige „Family Plot“. Es bedeutet nun sowohl Familien-Grab als auch Familien-Komplott.

    Fünf Wochen lang hielt AH seinen Ko-Regisseur Howard Kazanjian von den Dreharbeiten fern. Der verstand daher die meisten schlüpfrigen Anspielungen, die Blanche und George austauschen, nicht. Aber er drehte die sogenannte „Verfolgungsjagd“, bei der allerdings niemand verfolgt wird. Der Wagen rast einfach nur ungebremst talwärts. 

    Dann erfahren wir, wie es zur Zusammenstellung der Schauspielerriege für den Film kam. Bruce Dern hatte schon zwölf Jahre lang in AH’s TV-Serie und in „Marnie“ (1963) mitgespielt. Zunächst wurde sechs Tage lang mit Roy Thinnes anstelle von William Devane, der nicht verfügbar war, gedreht. Erst als Devane verfügbar wurde, durfte er sofort ran: Die Szenen wurden neu gedreht. Er gibt freimütig zu, nur sechs von den zehn Wochen gearbeitet zu haben, für die man ihn bezahlte. Erstaunlich ist, dass der Meister sich quasi in Barbara Harris (Blanche) verliebte und ihr gerne Geschichten erzählte. Gedreht wurde im Hinterland von San Francisco, aber alles wurde anonymisiert, um einem möglichen Rechtsstreit vorzubeugen. Nur ein einziger Zuschauer beschwerte sich über einen der Grabsteine…

    Die Theorie, die AH für „Verfolgungsjagden“ hatte, wurde anhand der detaillierten Storyboards (die sich alle in Donald Spotos Monografie über AHs Filme [Heyne-Verlag] nachschlagen lassen) akkurat umgesetzt: Der Wagen wird nie von außen gezeigt, sondern die Kamera befindet sich immer innerhalb des Autos. So hat der Zuschauer die Illusion, die Perspektive des Fahrers einzunehmen. Gedreht wurde, wie gesagt, v.a. im Studio vor einem Bluescreen, der später durch einen gefilmten Hintergrund ersetzt wurde. Nur das Nachspiel, sieht man, fand auf einer realen Bergstraße nahe San Francisco statt. 

    Die obligatorische Cameo-Szene zeigt nur AH’s Silhouette hinter einer Tür auf dem Einwohnermeldeamt, wo George nach Eddie Shoebridge forscht. Die Musik stammt von dem damals noch jungen und ohne den Ruhm des „Weißen Hais“ versehenen John Williams. Sie klingt ziemlich britisch. Der Vergleich zwischen Williams und AH’s Vorstellung von der Funktion der Musik ist recht interessant. 

    AH fühlte sich zu krank, um das nächste ihm angebotene Projekt zu verwirklichen. Es war „The Short Night“, wieder geschrieben von Ernest Lehman. Er bedauerte, dem Studio, das ihn stets so verwöhnt hatte, sagen zu müssen, dass er sich nicht mehr kräftig genug dafür fühlte. Bald danach starb er. Bmerkenswert ist Devanes Schilderung, wie AH sich per Telefon seinen Herzschrittmacher abhören ließ – vor allen Mitwirkenden! 
  2. Storyboards (9:40 min): Diese Storyboards bildeten wie stets die Grundlage für die kniffligsten Szenen, aber beim endgültigen „Dreh“ ergaben sich zahlreiche Änderungen: bei der Talfahrt und auf dem Friedhof. Der Kenner kann die Endfassung mit den Storyboards vergleichen, die am Schluss von Donald Spotos Buch „The Art of Alfred Hitchcock“ abgedruckt sind. 
  3. Produktionsfotos (14:30 min): Dies ist eine selbstablaufende Diaschau, die fast eine Viertelstunde dauert und mit Musik aus dem Film unterlegt ist. Interessant ist die Cameo-Szene, die hier ebenfalls vierfarbig gezeigt wird, ebenso zahlreiche Porträts, u.a. von AH und den Schauspielern. Ergänzt werden sie von Szenenefotos zu jeder Haupt- und sogar zu jeder Nebenfigur. Entwürfe für Filmplakate finden sich ebenso wie Aufnahmen von Details. 
  4. 2 Kinotrailer (3:16 min): Es gibt zwei verschiedene Kinotrailer zum Film. Sie werden von AH selbst präsentiert. 

Unterm Strich

Hitchcocks letzter Film ist in vieler Hinsicht sein Testament, sein Vermächtnis. Er besteht aus einigen Ermittlungen und „Verfolgungen“, wohingegen der Rote Faden aus der Suche nach einem Verschwundenen besteht. Dieser jedoch will gar nicht gefunden werden. Er hat zusammen mit einem Komplizen den perfekten Mord begangen. Was hat er zu befürchten? Und nun kommen die beiden ahnungslosen Schnüffler in sein Leben, um ihn zu beglücken! Was hat George Lumley genau in jenem Moment in der Kathedrale zu suchen, in der er, Shoebridge, zusammen mit seiner Komplizin die perfekte Entführung inszenieren? 

Wie sich zeigt, treten hier zwei Schauspielerpaare unwissentlich gegeneinander an: Blanche und George gegen Eddie und Fran. Letzte führen ein Leben wie in einem Schachspiel, denn gute Planung ist für Eddie alles. Dafür geht er sogar über Leichen, wie Fran zu ihrem Entsetzen feststellen muss. Das Ziel heiligt für ihn alle Mittel, auch das letzte. Auch Frances ist für ihn nur eine Schachfigur. Das perfekte Symbol für sein Leben ist der Friedhof, der aussieht wie ein Schachbrett: Barlow Creek Cemetery. Für ihn ist das Leben eine Bühne, und es ist kein Wunder, dass er sich ebenso gerne verkleidet wie Frances. Die Ernte ist ebenso brillant wie lachhaft: ein Kronleuchter voller Diamanten. 

Das genaue Gegenteil sind die beiden arbeitslosen Schauspieler, die von Tag zu Tag leben, aber dabei jede Menge Spaß miteinander haben. George mag ja logisch denken können und seine Pflicht als Arbeiter erledigen, aber das wahre Genie ist Blanche, das Medium. Sie deckt Beziehungen zwischen Menschen auf und manipuliert diese. So kommt sie der Sache mit der Rainbird-Familie auf die Spur: Zehn Riesen winken, Baby! Während george dem Krümelpfad der Hinweise folgt, stößt Blanche direkt ins Wespennest. Sie zahlt den Preis – und was täte sie nicht ohne ihren George.

Immer wieder kombiniert Hitchcock die zentralen Metaphern Schlaf, Grab, Tod, Verlust der Identität auf unterschiedliche Weise. Viele Ausführungen dazu finden sich in Donald Spotos fabelhaften Buch „The Art of Alfred Hitchcock“. Darin sind beispielsweise die Storyboards für die Friedhofszene abgedruckt: George verfolgt die Witwe des verunglückten Mr. Maloney wie eine Schachfigur, die eine andere Schachfigur über die Quadrate des Friedhofs verfolgt – fotografiert aus der gottgleichen Vogelperspektive. Als er sie endlich stellt, gelingt es ihm, Eddie Shoebridges neuen Namen zu erfahren. Schachmatt! Dies ist der Anfang vom Ende des „perfekten“ Mörders Shoebridge. 

Ich hatte jedenfalls großen Spaß an der Regie- und Kamerakunst des Meisters. Aber für heutige Verhältnisse ist das Tempo des, ähem, Plots doch recht gemächlich (und sein Formalismus für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich). Langsam und penibel genau muss es aber auch sein, denn falls Lücken aufträten, würde der Zuschauer die logische Kette der Hinweise nicht mehr verstehen – das ist das letzte, was sich ein Krimi leisten kann. Actionfreunde sollten sich lohnendere Kost suchen. 

Die Blu-ray

Mit fast einer TV-Stunde Länge (48:20 min) ist die Making-of-Dokumentation zu „Familiengrab“ eine der längsten in der Hitchcock Collection überhaupt. Anno 2000 erstellt, informiert sie mit allen wichtigen Fakten und Hintergrundinformationen. Zwei Diaschauen und zwei Trailer ergänzen sie. Was fehlt, ist lediglich ein Audiokommentar, der Szene für Szene erklärt, so wie es bei „Rear Window“ und „Vertigo“ der Fall ist. 

Mima2016: 4 out of 5 stars (4 / 5)

Lass ein paar Worte da:

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.