Wie erzählt man die Geschichte einer brutalen Vergewaltigung und der nachfolgenden Vergeltung? Die meisten Hollywood-Bearbeitungen bis hin zu „Monster“ (Charlize Theron) erzählen die Geschichte, selbst wenn sie erinnert ist, chronologisch, also von Anfang bis Ende. „Irreversible“ erzählt in umgekehrter Richtung – und gewinnt dabei erstaunlicherweise zwei beachtliche Wirkungen: Spannung und Betroffenheit.

Filminfos

  • O-Titel: Irreversible (F, 2002), DVD: 6.4.2004
  • FSK: ab 18
  • Länge: 100 Min.
  • Regisseur: Gaspar Noé
  • Darsteller: Vincent Cassel, Monica Bellucci, Albert Dupontel u.a.

Handlung (nicht in chronolog. Reihenfolge)

Der Film funktioniert wie der Versuch, sich an den Anfang vom Ende zu erinnern – und nicht nur an das Ende des Anfangs. Dabei dienen der erzählenden Kamera, die wie ein Engel von Tatort zu Tatort schwebt und weitaus mehr weiß als jede der Figuren, eben diese Figuren als Erinnerungsträger. 

„Die Zeit zerstört alles“, heißt es axiomatisch aus dem Munde eines Mittfünfzigers, der nackt auf dem bett in seiner Mietwohnung hockt, neben ihm ein bekleideter Besucher – ein Stricher? Jedenfalls gibt Mr. X zu, sich an seiner 16-jährigen Tochter vergangen zu haben. Sein Besucher, nennen wir ihn Mister Y, gesteht ihm das Recht zu, das getan zu haben. Merke: In diesem geistig-moralischen Klima ist es leicht, sich die folgende Handlung vorzustellen. Und das verhießt nichts Gutes – zunächst sicher nicht für die Frauen, aber auch nicht für deren männliche Partner.

Ein Mann wird aus den rotglühenden Korridoren der Sado-Maso-Schwulenbar „Rectum“ (= After) herausgetragen: Marcus (Vincent Cassel) liegt im Koma, wie zuvor schon seine Freundin Alex (Bellucci) in der Mitte des Films. Er hat dort versucht, einen Mann namens La Ténia aufzuspüren und für die Vergewaltigung von Alex zur Rechenschaft zu ziehen. Sein bester Freund Pierre (Albert Dupontel) , der Ex von Alex, hat ihn in die höllenartig ausstaffierten Stollen des Schulentreffs begleitet. Das Ergebnis war ein Toter, der nun mit einem zermanschten Gesicht daliegt. Es ist nicht einmal sicher, ob das La Ténia ist oder ob La Ténia überhaupt der Vergewaltiger war. Irgendjemand musste eben bezahlen.

Was ist geschehen? Marcus erinnert sich in der Ambulanz. 

Er ging mit Pierre auf eine Party, wo er sich Koks reinzog und daher gegenüber seiner Freundin Alex ein paar dumme Bemerkungen machte. Alex, die ein Geheimnis mit sich herumträgt, zieht die Konsequenzen und geht. Hinaus in die Nacht, allein, in einem Partydress. Um eine Straße zu überqueren, benutzt sie unsorsichtigerweise eine Unterführung. Dort findet bereits ein Gerangel zwischen einem Mann und einem Transvestiten namens Nunez statt. (Nunez gibt später Marcus den Tipp auf La Ténia.) Die Transe flieht.

Alex schafft es nicht, an dem Mann vorbeizuschleichen. Er schlägt sie nieder und vergewaltigt sie neun Minuten lang. Anal. Dann schlägt er die „Bonzennutte“ – sie trägt ein teures und durchsichtiges Partykleid – brutal zusammen, bis sie ins Koma fällt. 

Marcus und Pierre machen sich auf den Heimweg, als sie rein zufällig an einer Ambulanz vorbeikommen: Gerade wird Alex, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, in den Wagen gehievt. Marcus hat einen Nervenzusammenbruch. Er und Pierre werden von zwei nordafrikanischen Vigilanten angesprochen. Diese Bürgerwehrtypen trauen der Polizei nicht, weil die unfähig, langsam und korrupt sei. Marcus ist einverstanden, zur Selbstjustiz zu greifen. Über Nunez findet er den Weg ins „Rectum“.

Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Alex erinnert sich…

Alex war in den Armen ihres Marcus erwacht, als Pierre anrief, um die beiden zur Party abzuholen – es muss also schon später Nachmittag gewesen sein. Alex und Marcus machen rum und er meint so nebenbei, er würde sie gerne mal anal ficken – genau wie später der Vergewaltiger. Als Marcus Lebensmittel einkauf, macht Alex einen Schwangerschaftstest…

Mein Eindruck: der Film

Aufgrund der Erzählweise in chronologisch umgekehrter Richtung ist es unmöglich, über den Filminhalt zu sprechen, ohne die Form zu berücksichtigen. Schon der Titel „Irreversibel“, also „unumkehrbar“, stößt einen mit der Nase darauf. Thema des Films sind offenbar Normalbedingungen und ihre Umkehrung, aber auch die geschilderte Tat und der (vergebliche) Versuch, sie rückgängig zu machen.

Marcus ist ein lockerer Vogel, wie man so salopp sagt, und genießt den Augenblick und was er an Schönem zu bieten hat, Frauen beispielsweise, oder Kokain. Erst als er Alex verliert, wird er sich seiner Existenzbedingungen richtig bewusst. Wie Charles Bronson in „Ein Mann sieht rot“ übt er Selbstjustiz statt zur Polizei zu gehen. Ein weiterer fataler Schritt zu seiner Selbstvernichtung, die in dem Schwulenklub erfolgt. 

Die Gewalt und der Hass, die er am vermeintlichen La Ténia in dieser Version der Hölle auslässt, sind das gleiche Gewaltpotenzial, das ihn veranlasst, Alex anal ficken zu wollen. Der kleine Unterschied: Der Vergewaltiger gibt seinem eigenen Gewaltpotenzial nach und lebt es an einem Opfer – zufällig Alex – aus. Im Grunde gibt es also keinen Unterschied zwischen dem Täter und seinem Rächer. Marcus sieht das natürlich nicht so. 

Alex scheint von einem anderen Planeten zu stammen als Marcus (wahrscheinlich von der Venus). Sie ist sanft, anschmiegsam, großzügig (gibt Marcus ihr Geld), aber sexuell selbstbestimmt. Am – chronologischen – Anfang, beinah am Ende des Films liegt sie träumend in einem grünen Park, umgeben von spielenden Kinder: das Inbild der Fruchtbarkeit. An der Wand ihres Schlafzimmers hängt das riesige Poster eines Fötus’…

Während Marcus und Alex sich körperlich und seelisch perfekt zu ergänzen scheinen, stellt Pierre (Dupontel) eine Repräsentation des Intellekts dar. Er muss immer alles mit geistigen Mittel sezieren und hinterfragen. Als die drei in der Métro zur Party fahren, fragt er die beiden sogar, ob und wenn ja, wie sie einen Orgasmus gehabt hätten. So als handle es sich dabei um einen Leistungssport mit einer Skala von 1 bis 10. Kein Wunder, dass Alex diesen Typen vor zwei Jahren verlassen hat, um mit Marcus zusammenzuziehen. Der Intellektuelle Pierre schafft es denn auch nie, den Tatmenschen Marcus von seinem Rachezug ins „Rectum“ abzubringen.

Die drei Schauspieler machen ihre Sache hervorragend. Man nimmt ihre Darstellung kaum als Vorstellung wahr, sondern als handle es sich um das „echte“ Leben. Dabei gilt das Augenmerk des männlichen Zuschauers vor allem der verführerisch aussehenden Monica Bellucci, während es schwerfällt, sich mit Marcus oder Pierre zu identifizieren. Eine Identifikation ist in diesem vergröbernden Dreieck der Typen wohl auch gar nicht erwünscht, sondern vielmehr die kritische Auseinandersetzung damit. Die vorherrschende Kameraperspektive ist die Halbtotale. Es gibt kaum Großaufnahmen von Gesichtern, der Blick bleibt analytisch wie gegenüber einer Versuchsanordnung.

Wenn man sich nur diese drei Typen als „typische“ bzw. typisierten Vertreter der modernen französischen Gesellschaft ansieht, so kommt man vielleicht dem auf die Spur, was der junge Regierebell Noé sagen will: Eine Gewalttat wie Alex‘ Vergewaltigung kann nicht ungesühnt bleiben, aber es ist auch keine Alternative, Vigilanten in die dunklen Ecken der „Szene“ zu schicken und dort „aufzuräumen“, wie die Rechten wollen. Das führt nur zu einer Fortsetzung der Gewaltserie – oder sogar zur Selbstzerstörung. Aber der Weg des Rechts, der hier nur in Ansätzen zu sehen ist, scheint nicht besonders effektiv zu sein.

In keinem Fall gelingt, die Tat rückgängig zu machen. Der Besuch des engelhaften Beobachters auf Erden enthüllt nur Sackgassen. Und ins Paradies, in dem sich Alex im Park befand, führt ebenfalls kein Weg zurück. Es ist nicht die „Zeit, die alles zerstört“, sondern das unkontrollierte Verhalten von Männern unter Drogeneinfluss, das sich so destruktiv auswirkt.

Vorsicht: Musik!

Gaspar Noé setzt Sounds und Musik ein, um den Zuschauer auf einer unterschwelligen, unbewussten Ebene zu beeinflussen. Die Empfindungen, die er dadurch hervorruft, können mitunter beängstigend sein. Herzpatienten seien besonders gewarnt. In der Rectum-Szene, also schon ziemlich früh, sind für den aufmerksamen Zuschauer sehr tiefe Herztöne wahrzunehmen. Da der menschliche Herzrhythmus leicht zu beeinflussen ist, passt sich der des Zuschauers dem vorgegebenen Rhythmus an, was zu stark beschleunigten Herzschlag führen kann.

Wesentlich bedrohlicher sind hingegen die Rhythmen und Töne, die deutlich zu hören sind: im Menü (!) und in der Rectum-Szene. Diese vier anschwellenden Töne sowie die darunter liegende Basslinie verleiht dem bereits höllenartigen Ambiente etwas noch Gefahrvolleres. Wer nicht dagegen gewappnet ist, kann durchaus Angstzustände bekommen. In der Vergewaltigungsszene ist dieses Soundmuster abgelöst durch kaum hörbare, aber vorhandene Bässe, die mindestens zu einer unterschwelligen Nervosität gegenüber dem Gezeigten führen, wenn nicht sogar zu Heftigerem.

Es gibt ein probates Gegenmittel. Erstens ist der angebotene DTS-Sound abzulehnen, weil er insbesondere die Bässe hervorhebt. Der DD 5.1 Ton tut das zwar auch, aber nicht so mächtig. Wenn das noch nicht reicht, so fährt man den Sound, den der DVD-Player über den Verstärker erzeugt, weit herunter und gleicht dies durch den Fernseher aus. Dessen Sound darf natürlich basslastig sein. Man kann leicht über das Onscreen-Display die Menüoption „Raumklang“ [oder ihr Äquivalent]  ausschalten, die zu einer Verstärkung der Basstöne führt. Nun ist der Filmton auf ein erträgliches Maß reduziert.

Die Leih-DVD

Technische Infos

  • Bildformate: 2,35:1 (16:9)
  • Tonformate: dt. in DTS und DD 5.1, F in DD 5.1
  • Sprachen: D, F
  • Untertitel: D
  • Extras:
    • Keine auf der Leihversion!
  • Auf der Kaufversion:
    • Special Effects-Reportage
    • Nicht verwendete Szenen
    • Kurzfilm des Regisseurs: „Intoxication“ (Berauschung)
    • Zwei Musik-Clips
    • TV-Teaser
    • Kino-Trailer

Mein Eindruck: die DVD

Ich habe schon gesagt, dass der Sound eine große Rolle für den Eindruck des Films auf den Zuschauer spielt. DTS liefert die maximale Wirkung, und Sound in DD 5.1 ist nur wenig schwächer. Zu den Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie den Arzt von Ihrem Apotheker – oder den obigen Abschnitt „Vorsicht: Musik!“. Die Kamerafahrten, die einen Engelsflug simulieren, können obendrein Schwindelgefühle hervorrufen. Die Bildqualität lässt nichts zu wünschen, aber die Farbkodierung ist schon ziemlich auffällig: blutrot in der Rectum-Szene, scharlachrot ist die Farbe des Tunnels, in dem Alex vergewaltigt wird; bernsteinfarben sanft ist Licht in der Bettszene zwischen Alex und Marcus. Alle Außenaufnahmen wirken bedrohlich in ihrer Kälte. Wahrscheinlich wurde die Farbsättigung per Computer reduziert.

Informationen über diese Bearbeitungstechnik liefert wohl die Doku über die Special Effects, doch da diese Doku auf der Leihversion fehlt, kann ich dazu nichts sagen. Diese Doku ersetzt ein Making-of. Leider fehlen sowohl Interviews mit den Darstellern als auch Filmografien zu ihnen. Die Musik-Clips, den TV-Spot und den Trailer kann man getrost als unwichtiges Beiwerk abtun. Schade ist es da schon eher um die „Entfallenen Szenen“ und den Kurzfilm.

Unterm Strich

„Irreversibel“ ist ein Kunstfilm, der sich ähnlich wie „Baise-moi!“ mit einem unangenehmen Nebenaspekt menschlicher (männlicher?) Sexualität auseinandersetzt: mit hemmungsloser Gewalt, die sich in Vergewaltigung und Mord äußert. Dabei geht Gaspar Noés raffiniert gemachter Film in seiner ungeschminkten Darstellung weit über ähnliche Streifen wie „Romance XXX“ oder „Intimacy“ hinaus und verletzt bislang hochgehaltene Tabus des Zeigens. Meines Erachtens geht er in seiner Manipulation der Empfindungen des Zuschauers viel zu weit. In seiner Typisierung der drei oder vier Hauptfiguren vereinfacht er zu stark. Der erhobene Zeigefinger ist nicht zu sehen, aber er ist da: Wir brauchen bloß der Kamera zu folgen, um herauszufinden, was wir sehen SOLLEN. Sie legt uns quasi Scheuklappen an, um uns daran zu hindern, wegzusehen, wenn eine Vergewaltigung neun Minuten lang ohne einen einzigen Schnitt oder Perspektivwechsel gezeigt wird.

Es wird immer behauptet (vgl. Roger Ebert), man könne sich das Ansehen von „Irreversibel“ kaum zumuten. Das halte ich nicht für zutreffend. Es gilt allenfalls für den, der sich dem manipulativen Film-Sound (Herztöne!) ungeschützt aussetzt. Fällt das weg, ist der Kopf frei für die analytische Betrachtung eines ernstzunehmenden, nie voyeuristisch wirkenden Filmkunstwerks, das am Schluss sogar sehr schön sein kann.

Lass ein paar Worte da:

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.